Rehkitz-Suche

Ende Mai stand auf den Oberneulander Wiesen die Heuernte an. Da die mit der Brut- und Setzzeit vieler Wildtiere zusammenfällt, rief die Hannoveranerzucht Bremen in Oberneuland zur Mithilfe bei der Rehkitzsuche auf. Denn besonders junge, wenige Tage alte Kitze suchen auf naturnahen Wiesenflächen Deckung und haben gegen große Erntemaschinen keine Chance.

In aller Regel holt die Ricke bei Gefahr ihr Kitz ab. Ist sie nicht in der Nähe, duckt sich das Jungtier tief in das Gras und ist dem Mähwerk ausgeliefert. Auch der Bremische Landwirtschaftsverband organisiert Rehkitzsuchen, zum ersten Mal fand 2019 solch eine Aktion statt. Mit vollem Erfolg! Viele Ehrenamtliche ließen sich registrieren, um auch in den nächsten Jahren aktiv helfen zu können.

Dem bereits zweiten Aufruf der Hannoveranerzüchter Heinrich Gerhard Tietjen und Wöltje Junge in dieser Saison folgten etliche Helfer. Zwei Stunden bevor der Mähdrescher mit einem sieben Meter breiten Mähwerk auf den Wiesenflächen am Aumundsdamm eintraf, bildeten die Helfer eine engmaschige Kette und durchkämmten eineinhalb Stunden lang das hochgewachsene Gras auf der Suche nach Rehkitzen. Denn die standen an diesem Tag auf der acht Hektar großen Fläche im Fokus des Interesses. Außer festem Schuhwerk, Ausdauer, Sonnen-, Allergie- und Zeckenschutz mussten die Helfer nichts mitbringen. Laute Signalfanfaren hatten die Hannoveranerzüchter zum Aufscheuchen des Wildes mit dabei, wie auch zwei jagdlich geführte Hunde, die bei der Suche mithalfen.

Mit der Beteiligung an der Rehkitzsuche leisteten die ehrenamtlichen Helfer praktischen Naturschutz. Sarah und Oliver Michel cancelten an diesem Tag ihre Spazierwegroute durch den Rhododendronpark und gingen stattdessen in der langen Kette durch das Gras der Oberneulander Wiesen. Die 26-jährige Kim beteiligte sich bereits im Vorjahr an der Rehkitzsuche und erfuhr über die sozialen Medien von dem Termin. „Das wollten wir immer schon mal machen“, sagte Britta, die mit ihrem siebenjährigen Sohn Moritz kräftig bei der Suche mithalf. Schon beim ersten Suchtermin einige Tage vorher retteten ehrenamtliche Helfer durch ihr Engagement drei Rehkitze vor dem Mähwerk und vertrieben viele andere Tiere von der Fläche.

„Wer ein Kitz findet“, so Heinrich Gerhard Tietjen zur Einführung, „sagt Bescheid.“ Da Ricken sehr empfindlich auf menschliche Gerüche reagieren, bestehe die Gefahr, dass sie ihre Rehkitze nach Kontakt mit Menschen nicht mehr annehmen. Mit Gummihandschuhen und jeder Menge Gras in den Händen aber ließe sich ein Kitz auf eine benachbarte, nicht zum Mähen vorgesehene Fläche tragen. Da bereits zu diesem Zeitpunkt viele Oberneulander Wiesenflächen gemäht waren, befürchtete Tietjen eine starke Verdichtung von Rehen und ihren Kitzen auf der noch ungemähten Wiese. „Am liebsten habe ich es, wenn sie flüchten“, gab er unumwunden zu. Handaufzucht verlassener oder verwundeter Kitze ist für den Pferdezüchter nicht die erste Wahl. Denn der Transportstress zu Aufzuchtstationen und Einsamkeit führe schnell zum Tod der noch jungen Rehkitze.

An diesem Tag stöberten Züchter und Helfer weder Rehe noch Kitze auf. „Wir sind sauber geblieben“, berichtete Heinrich Gerhard Tietjen, als der Mäher nach getaner Arbeit die Wiesenfläche verließ. Leider aber wurde während der Rehkitzsuche ein totes, offensichtlich von einem Hund gejagtes Kitz, am Wiesenrand gefunden. „Frei laufende Hunde sind ein ganz großes Problem“, so die Züchter und Jäger, die mit dieser Problematik in Oberneuland immer wieder zu kämpfen haben. Denn frei laufende Hunde stöbern Rehkitze auf und verletzen sie. Die dadurch entstandenen Wunden infizieren sich. Das bedeute, so Tietjen, dass die Kitze zwar nicht aufgrund von Hunderiss zu Tode kommen, aber infolge der sich infizierenden Wunden verenden. Auch der Erfolg eines Programms des NABU zum Schutz von Bodenbrütern wie Kiebitzen sei durch frei laufende Hunde auf den Wiesenflächen gefährdet.

Für Natur und Landwirt ist die Rehkitzsuche eine absolute Win-win-Situation. Totes Wild in frischgemähtem und in Ballen gepresstem Heu führt bei Weidevieh zu Botulismus. Die Wahl eines anderen Mähzeitpunkts, der nicht mit der Brut- und Setzzeit kollidiert, ist im landwirtschaftlichen Ablauf nicht möglich.

„Wir arbeiten mit der Rehkitzrettung Fischerhude zusammen“, heißt es auf Hof Haltermann. Vor der Mahd wurden mit Drohne und Wärmebildkamera die Flächen, von denen viele in Niedersachsen liegen, von den ehrenamtlich arbeitenden Rehkitzrettern von oben abgesucht. Am Wiesenrand standen Drohnenpilot und Helfer, die die mithilfe der Wärmebildkamera ausgemachten Kitze einsammelten und auf sicherem Terrain wieder aussetzten. Da eine Wärmebildkamera die Infrarotenergie des Tieres erkennt, ist deren Einsatz bei sommerlichen Temperaturen aufgrund der geringeren Temperaturdifferenzen schwierig. Als die Haltermannschen Grasflächen gemäht wurden, war das aber kein Problem. „Das hat total gut geklappt“, lobte Karen Haltermann den Einsatz der ehrenamtlichen Tierschützer.

Denn deren Hilfe machte es den Landwirten recht leicht, Flächen kitzfrei mähen zu können. Gefunden haben sie in diesem Jahr zwei Kitze und ein Entengelege. Für Landwirte sei der Drohneneinsatz eine gute Lösung. Seien die zur Mahd vorgesehenen Flächen bereits eingespeichert, können die Rehkitzretter auch im Folgejahr auf die Daten zurückgreifen. Voraussetzung für den Einsatz der Drohnen ist sowohl eine Fluggenehmigung wie auch eine Genehmigung der zuständigen Jäger. Mit der in der Milchtankstelle am Hodenberger Deich aufgehängten Spendenbox für die Rehkitzrettung Fischerhude hoffen Karen und Lüder Haltermann, deren ehrenamtliches und unentgeltliches Engagement stärken zu können, denn die Anschaffungskosten für Drohne und Wärmebildkamera liegen im vierstelligen Bereich.

Text und Foto: Sabine v.d. Decken