Das letzte Geschenk

Gedanken von Pastor Thomas Ziaja

Als Kind gehört die Bescherung zu den Höhepunkten des Weihnachtsfestes. Du fieberst darauf hin. Es wird ein großes Geheimnis darum aufgebaut. Die Zeit zieht sich wie Kaugummi. Dann endlich darfst du zum Weihnachtsbaum und siehst die vielen Geschenke. Die Geschenke werden verteilt, ausgepackt, bespielt. Es ist ein großes Fest.
Aber dann ist da irgendwann diese Leere unter dem Tannenbaum. Die Geschenke sind weg. Der Platz, der eben noch voll war mit Überraschungen und Geheimnissen, ist unausgefüllt. Wenn das letzte Geschenk geöffnet ist, ist der Zauber gebrochen. 
Solange noch ein letztes Geschenk unter dem Baum liegt – meist für irgendeinen Verwandten, der erst am nächsten Tag zum Fest dazu kommen sollte – dauert das Geheimnis an. Es ist zwar nicht für mich, dieses letzte Geschenk, aber ich kann es trotzdem anschauen und mir ausdenken, was da wohl drin steckt: eine Stichsäge für Onkel Karl, ein Musicalticket für Oma, ein Schal für Tante Ida, der Weltfrieden? Solange es ungeöffnet bleibt, ist es in gewissem Sinne für alle da. Und es hätte alles sein können.
Noch stehen die Weihnachtsbäume nicht in den Stuben. Noch ist Advent. Der Advent ist das letzte Geschenk unter dem Baum, das, worüber wir uns wundern können, das, was wir noch nicht bekommen haben und wonach wir uns am meisten sehnen. Der Advent ist die große Überraschung, von der ein Psalm singt: »Wir waren wie in einem Traum, / als der Herr das Schicksal Zions zum Guten wendete: / Da füllte Lachen unseren Mund, / und Jubel löste uns die Zunge. / Da sagte man unter den Völkern: / ›Der Herr hat Großes an ihnen getan!‹ / Ja, der Herr hat Großes an uns getan! / Wir waren in einem Freudentaumel.« (Psalm 126,1-3)

Wir haben uns angewöhnt, alles zu Ende zu bringen. Wir wollen die Geheimnisse auflösen und erklären. Selbst Weihnachten wollen wir vollenden. Wir haben ein gutes Weihnachten gefeiert, wenn wir für uns und unsere Lieben erfolgreich alles getan haben: das Glöckchen geläutet, den Braten serviert, die Geschenke ausgepackt, den Weihnachtsfrieden gewahrt. Wenn wir alles auf unserer Liste abgehakt haben, dann ist Weihnachten perfekt.
Das Gegenteil ist bei Weihnachten der Fall. Weihnachten ist unvollendet. Dort beginnt ein Wunder in einer Krippe. Ein neues Leben beginnt. Gott wird ein Menschenkind. Der Zauber beginnt erst. Was dieses Geschenk beinhaltet, kann noch keiner ermessen. Es muss sich in der Zeit, die auf Weihnachten folgt, erst erweisen.
Weihnachten ist zurückhaltend. Weihnachten ist ein Fest ohne Macht. Es ist schutzlos wie ein Neugeborenes. Wenn wir Weihnachten feiern, dann müssen wir uns um dieses Fest sorgen wie um ein kleines Baby, liebevoll und gütig. Weihnachten ist das Fest, an dem Gott alles offenlässt: unerledigt, ungekauft, ungeöffnet, unkontrolliert, ungeplant, unvorhergesehen. Schon der Weg dorthin ist eine Erfahrung mit dem Geheimnis, dass nichts perfekt wird in unserem Menschenleben, aber in allem wohnt eine Hoffnung, eine Sehnsucht, die sich noch zeigen muss. Ich wünsche allen einen geheimnisvollen Advent und ein überraschendes Weihnachtsfest, im Dezember und alle Tage danach.