Nachdenkliches zur Europawahl
von Pastor Thomas Ziaja
Die Wahl ist gelaufen. Ich war morgens einer der ersten im Wahlbüro, um meine Stimme abzugeben. Noch vor dem Gottesdienst am Sonntag fand ich, das ist heute meine Pflicht. An Wahlsonntagen bin ich dann immer ein bisschen nervös, wenn es auf 18 Uhr zugeht. Ich warte auf das erste Stimmungsbild und dann die Hochrechnungen.
Am Abend des 9. Juni 2024 geschah, was ich vermutet hatte. Demokratische Parteien hatten wenig dazugewonnen, in den meisten Fällen sogar unglaublich viele Stimmen verloren. Radikale Parteien hatten den größten Zulauf, Parteien, die das Projekt Europa in Frage stellen und in so vielen Fragen unmenschliche Positionen vertreten. Ernüchtert und ängstlich gehe ich an diesem Abend ins Bett.
Am nächsten Morgen schreibe ich diesen Text. Die Frage, die mir nachgeht, ist: »Was suchen diese Menschen in diesen Parteien? Was macht deren Positionen so anziehend und verlockend?« Denn klar ist mir auch, je genauer ich mir die Wahlergebnisse anschaue, dass die Menschen, die so gewählt haben, am allerwenigsten von diesen Parteien erwarten dürfen.
Genauer gesagt bewegt mich die Frage schon länger. Woher kommt der Zulauf zu den Machtpolitikern in so vielen Ländern, die ganz offensichtlich keine faire und gerechte Politik betreiben, die der Mehrheit der Gesellschaft nützt? In all den Fällen, an die ich denke, bereichern sich diese Politiker nur selbst.
Ich komme zu dem Schluss, dass es um Macht geht. Es scheint verlockend zu sein, wenn ein Mensch Macht hat und sie ausübt. Macht zu haben weckt in denen, die unter dieser Macht stehen, offenbar das Vertrauen, dass da jemand schon das Richtige tun wird. Versteht mich nicht falsch: Politiker brauchen Macht, sonst können sie nichts bewegen. Aber Macht, die sich nicht kontrollieren lassen will, ist am Ende immer eine Diktatur.
Lange Jahre sind die Israeliten in der Bibel gut damit klar gekommen, dass Macht geteilt wurde. Richter übten Macht auf Zeit aus, wenn gefährliche Situationen entstanden. Danach lag die Macht wieder in den Händen der einzelnen Familien. Macht über das ganze Volk gab es nur bei Bedarf, nur im Ausnahmezustand, bis irgendwann die Rufe nach einem König laut wurden. Die Propheten redeten dagegen, allen voran Samuel. Doch das Volk wollte nicht auf Samuel hören. Sie riefen: »Nein! Wir wollen einen König über uns! Dann werden auch wir so sein wie alle anderen Völker. Unser König soll über uns herrschen, uns im Krieg anführen und unsere Schlachten schlagen.« (1. Samuel 8,19–22)
Am Ende stimmte Gott einem König zu. Die Geschichte der Könige Israels hat dann wenige Lichtgestalten und ziemlich viel Wahnsinn, Großmachtphantasien und Überheblichkeit produziert. Das Königtum war nie eine Erfolgsgeschichte in Israel.
Diese uralte Geschichte zeigt, dass das verwirrende Verlangen nach Macht nichts Neues ist. Es geht um Macht über Menschen. Es geht aber nicht um Macht für die Menschen und mit ihnen.
Mein Glaube lehrt mich eine andere Geschichte. Die Macht von Menschen ist begrenzt, immer und zu allen Zeiten. Meine Macht ist genauso wenig unendlich wie die der Diktatoren. Ich lasse meine Macht kontrollieren und hinterfrage sie ständig. Ich lasse mich von meinem Glauben an einen Gott hinterfragen, der Recht und Gerechtigkeit fordert, Liebe und Gemeinschaft, Vergebung und Strafe für Machtmissbrauch.
Ich wünsche mir, dass dieses begrenzte Machtverständnis wiederkommt. Und darum werde ich wieder wählen gehen. Darum werde ich nicht den Mund halten, wenn Macht missbraucht wird. Darum werde ich mich selbst überprüfen. Darum werde ich glauben, hoffen und lieben, damit am Ende eine größere Macht Wirklichkeit wird, die dir und mir dient.