Alle Schäflein im Trocknen
Die historischen Anfänge Obeneulands
Oberneuland, Overnigelant, Overneeland – das ist oberhalb liegendes, neues Land. Aus Moor und Sumpf entstand im 12. Jahrhundert die erste Siedlung. Der ursprünglich niederdeutsche Name des heutigen Stadtteils von Bremen beschreibt genau die Beschaffenheit und den Ursprung der ersten Besiedlung der Flächen nordöstlich vom Stadtkern Bremens.
Erst wurde das Land von Holländern trocken gelegt, dann musste es von außen durch Deiche geschützt werden. Wer sich mit der Geschichte Oberneulands befasst, versteht auch Probleme der Gegenwart. In Holland kannte man sich im frühen Mittelalter schon gut aus, wenn es darum ging, Haus und Hof gegen Wasser zu schützen.
Kein Leben in Bremen ohne Hochwasserrisikomanagement
Bis heute sind im Land Bremen 86 % der Fläche potenziell von Hochwasser bedroht, das vergangene Winterhochwasser hat es einmal wieder gezeigt. Das Leben im Marschland wird seit jeher von Gezeiten und durchfeuchteten Flächen geprägt. Seit der ersten Besiedlung bedeutete das: Menschen, Vieh und Land müssen vor dem Wasser geschützt werden. So heißt es aktuell zum Thema Hochwasserrisikomanagement auf der Internetseite der Senatorin für Umwelt, Klima und Wissenschaft Bremen, dass nicht nur Sturmfluten in der Nordsee zu Hochwasser in Bremen führen. Kommt noch ein Binnenhochwasser dazu, werde es bedrohlich. Das Management des Risikos sei daher unerlässlich.
Wümmeniederung und Hollerdeich: Die Geschichte ist erstaunlich aktuell
Für die gesamte Wümmeniederung hält das Bundesamt für Naturschutz bis heute auf seiner Website fest, dass das Grünland-Graben-Areal der Wümme, die sich durch die Wiesen mäandriert, Wasser aus den Entwässerungsgräben der Niederung aufnimmt. Darum sei der Naturraum nach wie vor in Blockparzellen gegliedert und durch immer wiederkehrende Überflutungen charakterisiert. Denn die Höhenlage liegt durchschnittlich bei nur 1 bis 2 m ü. NN.
„Insula Bremensis“ und „Brema“ am Rand eines Wassers
Mit ganz Bremen zusammen liegt Oberneuland im norddeutschen Tiefland und damit im größten Marschgebiet der Welt. Marschland ist Schwemmland, immer etwa auf Höhe des Meeresspiegels. Entlang der Nordseeküste bilden deutsche, niederländische und dänische Gebiete geomorphologisch (also die Erdoberfläche betreffend) eine Einheit.
Bremen gehört noch heute zum Küstengebiet. Und der Name ist Programm, er stammt aus dem Altsächsischen oder Mittelniederdeutschen und damit noch aus der Zeit relativ kurz vor der offiziellen Gründung Oberneulands vor etwas mehr als 800 Jahren. Das Wort Brema wird als Rand eines Wassers oder einer Düne gedeutet. Denn die Siedlungen auf der langen Weserdüne, auf der die Innenstadt gebaut ist, entstanden seit dem 1. Jh. nach Christus. Im 8. Jh. erhob Karl der Große Bremen zum Bischofssitz, im 9. Jh. wurde es mit Hamburg vereint und unter Friedrich I. Barbarossa 1186 eine sogenannte Freie Reichsstadt. Friedrich I. erlaubte auch die Besiedelung der „Insula Bremensis“ zwischen der Ochtum und der Weser.
Von der Niederung der Wümme zum oberen neuen Land
Es ergab eine Win-win-Situation, als der Erzbischof Friedrich von Bremen im Jahr 1113 eine Gruppe Holländer aus Utrecht empfing, die auf Suche nach Land waren. Er verkaufte ödes, unkultiviertes Land im Osten Bremens mit seinen Mooren und Schwemmflächen. Und er genehmigte die Ansiedlung der Holländer, die als Gegenleistung ihr Know-how, ihre Arbeitskraft und Abgaben von ihrer Hofwirtschaft anboten.
Nur Warfen und Dünen boten damals Schutz vor nassen Füßen. In der Region lebten im 12. Jh. bereits sächsischstämmige Menschen in Ortschaften, die heute oft noch den Begriff „Fleth“ im Namen tragen. Es war die Zeit Kaiser Heinrichs IV., der als Salier in der Kaiserpfalz in Goslar geboren worden war. Die Stadt Utrecht war im 12. Jh. bereits ein wohlhabender Bischofssitz mit überregionaler Bedeutung. Zu dieser Zeit sind Flüsse wie Weser und Wümme entweder Handelswege, an denen entlang sich Siedlungen entwickeln, oder geografische Schranken, die die Landhandelswege der Menschen versperren. Wer sich von der Insula Bremensis nach Nordosten aufmachte, musste durch nasse Wiesen bis zur Wümme waten. Noch heute haben Wümme und Weser Tiedenhub.
Unsre Nachbarn aus Holland brachten den Fortschritt
Damals wussten besonders die Menschen aus den heutigen Niederlanden, wie man Schwemmflächen urbar macht, Polder anlegt, Fleete zieht und Deiche baut. Das Hollerland trägt bis heute den Namen der Hollerkolonisten. Was heute Oberneuland heißt, wird vor der Trockenlegung eine Marschlandfläche mit tief liegenden Bruchwäldern gewesen sein, vielleicht ähnlich den Büschen und Bäumen, die man heute hinterm Oberneulander Hollerdeich in Richtung Wümme sieht. Der Begriff Hollerdeich, der das Land vor dem Wümmehochwasser schützt, ist im Laufe der Jahrhunderte zum Fachbegriff für einen Abschluss zum Schwemmgebiet eines Flusslaufs geworden.
Erfolgreich legten die Holländer ein Gebiet an, das einen sogenannten Goh namens Hollerland bildete. Ursprünglich gehörten benachbarte Gebiete der heutigen Stadtteile Horn-Lehe, Borgfeld und Osterholz zum historischen Goh Hollerland.
Es ging mit rechten Dingen zu im Goh Hollerland
Dafür, dass die Holländer ihr Wissen und ihre Arbeitskraft für die Urbarmachung des Landes einsetzten, erhielten sie vom Erzbischof Land, mussten nur wenige Abgaben zahlen und konnten sich laut der Siedlungsurkunde von Rockwinkel weitgehend selbst verwalten. Sie unterlagen ihrem eigenen „Hollerrecht“ und waren damit weitaus bessergestellt als die normalen Bauern.
Das Staatsarchiv in Bremen ist im Besitz der Urkunde Erzbischof Sigfrieds von 1181, „den Verkauf des Hollerlandes betreffend“. Hier werden Oberneuland und Rockwinkel das erste Mal erwähnt. Zu dieser Zeit stehen schon die romanischen Teile des Bremer Doms auf dem höchsten Punkt der Weserdüne und kurz danach wird in Arsten, auf der anderen Weserseite, eine der ältesten Kirchen in Bremen gebaut. Aus dem Jahr 1149 stammt die erste Erwähnung von Gut Hodenberg und 1270 wird erstmals eine Kirche in Oberneuland erwähnt.
Der neu geschaffene Goh Hollerland hatte eine eigene Gerichtsbarkeit. Recht gesprochen wurde an einer Stelle, auf die noch heute die Straße Uppe Angst verweist. An die historische Richtstätte erinnern ein Gedenkstein und auch Straßennamen wie Richtepad und Devekamp. Die Baudenkmalpflege hat den Gedenkstein errichtet (un dat is op Platt, aver dat versteiht villiecht nich all Lesers):
„Hier weer in ole tieden de richtestede von dat hollerlandsche gogericht, dat vor de karken ton hoorn und to overneeland hägt woorn is mannicheen bösewicht hett hier sienen lohn krägen. dat land in de naberschub harr den namen deeveskamp’ un in’n volksmun’n heet düt plack eer noch vondage – uppe angst –“
So keem dat Plattdüütsche nah Bremen
Viele Niederländer wanderten im 12. Jahrhundert in die flachen Gebiete östlich ihrer Heimat aus. In dieser Zeit übte ihre Sprache, das Mittelniederländisch, einen großen Einfluss aus. Es verbreitete sich zusammen mit der Urbarmachung der Weser- und Elbmarschen. Das heutige Hollerland erhielt als Nova Terra (neues Land) den historischen Namen Hollandria.
Die Kolonisten haben auch in Horn Spuren hinterlassen, nur kurz nach der Gründung Oberneulands. Sie haben den inzwischen ältesten Baum Bremens gepflanzt, die Horner Linde auf dem Friedhof vor der Horner Kirche. An der imposanten Gerichtslinde, die eigentlich aus drei Bäumen zusammengewachsen ist und mehr als sechs Meter Stammumfang hat, steht eine Hinweistafel (dat is ook op Platt): „Diese etwa 900 Jahre Linde pflanzten die holländischen Bauern, die seit Anfang des 12. Jahrhunderts Horn, Lehe und die Vahr besiedelten, bei ihrer Kirche vom Heiligen Keuz.“
Mit allen Wassern gewaschen
Fleete entwässern bis heute Oberneuland. Deiche schützen den Stadtteil in Richtung Wümme und Weser. Das Grundwasser steht hoch im wasserdurchtränkten Marschland. Wer einen Keller besitzt, baut Drainagen oder weiße Wannen, um keine nassen Füße zu bekommen. Die meisten Oberneulander dürfen nur einen kleinen Teil ihres Grundstücks bebauen, damit das Regenwasser im Garten versickern kann, wozu früher kleine Seen angelegt wurden oder heute Entwässerungsanlagen wie Rigolen gebaut werden. Und so ist es fast ein Wunder, dass den Bremern noch keine Schwimmhäute zwischen den Fingern gewachsen sind.
Zum Foto:
Der Blick zum Hollerdeich Richtung Wümme mit schnurgeraden Wegen und Gräben entspricht der Anlagen von Landstreifen oder Blöcken aus der Zeit der Hollerkolonisten. So erhielt auch das nahe gelegene Blockland seinen Namen.
Text und Foto: Frauke Blum