Abendstille

Nachdenkliches von Pastor Thomas Ziaja

Die Sonne ist schon fast untergegangen, und der Himmel trägt Pastell. Schon bald spüre ich die Kühle der Nacht, und die Vögel zwitschern in den letzten Stunden des Lichts.
Ich sitze auf der Terrasse, ein Glas Wasser in der Hand, und lasse meinen Blick über den Garten schweifen. Langsam kommt alles zur Blüte. Der Frühling ist da, noch nicht sommerwarm, aber nicht mehr eiseskalt. Doch es ist nicht die Wärme, die mich beschäftigt. Es ist diese Stille, die sich plötzlich über alles legt, die mir die Zeit gibt, über mich selbst nachzudenken.
Ich schließe die Augen für einen Moment. Die Stille wird lauter, je mehr ich mich darauf einlasse. Es ist, als würde ich meine eigenen Gedanken zum ersten Mal an diesem Tag wirklich hören. Dafür war kaum Zeit, zwischen Frühstück und Abendbrot, Schreibtisch und Terminen, Gesprächen und Telefonaten.
Ich sitze in der Stille meines Gartens und mich fröstelt leicht. „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine“, geht mir der 139. Psalm durch den Kopf. Die Worte bewegen sich in mir und lassen sich nicht abschütteln. Es ist nicht nur ein Vers, den ich auswendig kann, es ist eine Bitte, die mir nun näher kommt als je zuvor. Die Stille lässt mich nicht unberührt. Sie zwingt mich, hinzusehen, mich zu hinterfragen.
„Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin“, murmle ich innerlich. Ja, so geht es weiter! Und dann: „Und leite mich auf ewigem Wege.“ Es ist diese Frage, die in mir aufsteigt. Bin ich auf dem richtigen Weg? Und wenn ja, wie erkenne ich es? In der Stille wird mir bewusst, wie oft ich versuche, Dinge zu übersehen, abzulenken, zu verdrängen. Ich habe die Unruhe des Alltags gesucht, um nicht mit mir selbst konfrontiert zu werden. Doch jetzt merke ich, wie mich die Stille herausfordert.
Ich öffne die Augen wieder, und der Himmel ist inzwischen in ein dunkles Blau getaucht. Die ersten Sterne sind zu sehen, und die kühle Luft zieht sich jetzt über die Terrasse. Der Frühling ist noch da, aber er kündigt die Nacht an. Die Stille bleibt, und sie ist nicht mehr unangenehm. Sie hat sich verändert. Sie ist nicht mehr nur das, was mich beunruhigt. Sie ist zu einem Raum geworden, in dem ich mich selbst erkennen kann. In der Stille ist mehr als nur die Leere. Sie ist ein Ort, an dem ich mit meinen Gedanken, meinen Ängsten, meinen Zweifeln und auch mit meinen Hoffnungen und meiner Sehnsucht in Kontakt komme.
Die Stille ist nicht das Ende des Tages. Sie ist der Moment, in dem der Tag nachklingt, aber auch der Moment, in dem ich mich fragen darf, was wirklich bleibt. Was bleibt, wenn alle Ablenkungen verschwunden sind? Was bleibt, wenn ich mir selbst gegenübertrete? In der Stille beginnt ein Gespräch. Es ist nicht oberflächlich wie der Smalltalk des Tages. Es ist ehrlich, und darum ist dieser Moment so wertvoll.
Am Ende dieses Tages bleibt, wie ich mich neu ausrichte, nicht in einer kompletten Kehrtwende, vielmehr wie man früher eine Uhr leicht nachgestellt hat, damit sie wieder im Gleichklang mit der Zeit läuft. Ich verlasse die Stille und gehe zurück auf den Weg, der mich zu Gott und zu meinen Mitmenschen führt. Damit ich ihn gehen kann, muss ich mir begegnen und sagen: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz.“
Ich stehe auf und gehe weiter, in der Hoffnung, die mich in die Nacht begleitet, mit der Gewissheit, dass dieser Weg immer weitergeht.