Des Gipfels nicht würdig

Nachdenkliches von Pastor Thomas Ziaja
Bei einer Bildungszeit stehe ich mit einer Kollegin auf dem Plateau der Zugspitze. Wir schauen gemeinsam hoch zum Gipfelkreuz und sagen: „Da müssen wir hin!“ Die Bergführerin hatte uns gewarnt. Der Stein ist nass und glatt. Es ist kalt, und das Halten am Drahtseil ist nicht einfach.
Ein bergerfahrener Kollege sieht, dass es uns in den Füßen kribbelt, und rät uns dringend davon ab. Immer wieder wandert unser Blick zum Gipfel. Wir schauen uns verschwörerisch an und sind hin- und hergerissen. Der Kollege merkt, dass wir noch keine Ruhe finden, und sagt: „Außerdem seid ihr gar nicht würdig, auf dem Gipfel zu stehen. Ihr seid mit der Bahn hier hochgefahren. Wenn ihr vom Tal aufgestiegen seid, seid ihr des Gipfels würdig.“
Das sitzt! Wir schauen uns an und sind uns einig, dass er recht hat. Wir könnten da jetzt locker rauf, aber das wäre doch ein billiger Triumph. Wir machen ab, dass wir das nachholen und zusammen auf den Gipfel wandern – erschöpft, aber würdig.
Dieses Wort „würdig“ hat sich festgesetzt. Ich suche gerne die bequeme Bahn: hochfahren, oben sein, Aussicht genießen – alles ohne Schweiß, ohne Mühen, ohne Anstrengung. Und wenn ich dann angekommen bin, ist das ein schaler Geschmack. Wer den Weg gegangen ist, wer sich Meter für Meter hochgearbeitet hat, wer gekämpft und gezweifelt hat, der steht anders da oben. Dann bin ich kein Tourist, sondern Teil des Berges.
Manches im Leben ist nicht billig zu haben. Liebe zum Beispiel. Wer sie nur als schnellen Kick sucht, der wird bald enttäuscht sein. Liebe kostet. Sie fordert Geduld, Vergebung, Treue, immer wieder neue Anläufe. Und nur dann trägt sie.
Oder Vertrauen. Vertrauen lässt sich nicht im Fahrstuhl hinaufziehen. Es wächst im Tal, in den Tiefen, wo man aufeinander angewiesen ist. Wer dann oben steht, der weiß: Dieses Vertrauen ist nicht selbstverständlich, es ist erarbeitet – erschöpft, aber würdig.
Jesus selbst hat das so gesagt: „Wer sein Leben gewinnen will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden“ (Matthäus 16,25). Es klingt paradox. Aber genau so ist es: Die Abkürzung führt selten ans Ziel. Das wirkliche Leben liegt nicht im billigen Gewinn, sondern in der Hingabe, im Einsatz, im Weg, der Kraft kostet.
Es war richtig, dort nicht einfach raufzugehen. Wir waren nicht würdig. Nicht, weil wir zu schwach gewesen wären. Wir hatten den Preis nicht bezahlt. Der Weg vom Tal zum Gipfel war uns an diesem Tag geschenkt, und das musste für diesen Moment genug sein.
Du bekommst ein Leben geschenkt, aber damit ist es nicht an seinem Gipfel angelangt. Dieses Geschenk muss gelebt werden als Weg, der dich verändert, der dich fordert, der dich durch Täler und Anstiege führt. Wenn du schließlich oben ankommst, erschöpft, aber mit offenen Augen, weißt du: Es hat sich gelohnt.
Am Ende trägt nicht der billige Triumph, sondern die Erfahrung: Ich bin gegangen. Ich bin geführt worden. Ich habe das Ziel erreicht, Schritt für Schritt. Und dann steht man da, erschöpft, atemlos, voller Freude – und weiß: Jetzt bin ich wirklich oben, erschöpft und würdig.