Nicht allein im Zelt

Nachdenkliches von Pastor Thomas Ziaja

»Wo ist denn dein Gott?«, wird Jesus spöttisch gefragt, als er am Kreuz hängt. »Ruf ihn doch und er soll dich vom Kreuz nehmen.« Aber Gott kommt nicht und Jesus stirbt am Kreuz.
»Wo ist denn dein Gott?« Die Frage taucht auf, wenn schlimme Dinge geschehen, bei Naturkatastrophen und Unfällen. Und gleich folgt die Frage, warum der allmächtige Gott das denn nicht verhindert hat.
Als ich diesen Text schreibe, ist der Anschlag der Hamas-Terroristen auf Männer, Frauen und Kinder in Israel, bei dem Jüdinnen und Juden zu Hunderten ermordet wurden, keine Woche her. Auch ich frage mich, warum hat das niemand verhindert? Wenn schon kein Geheimdienst und kein Militär, dann doch wenigstens Gott. Wo war der Gott Abrahams und Sarahs, Moses und Mirjams, als die Kinder Israels abgeschlachtet wurden?
Gott verhindert keine Unglücke. Das ist mir in meinem Leben klar geworden. Gott verhindert auch nicht, dass Menschen terrorisieren und morden. Wir Menschen haben das Elend, das wir übereinander bringen, selbst zu verantworten.
Es Gott in die Schuhe zu schieben, ist einfach billig und feige. In Gottes Namen Menschen zu töten, ist noch mehr als das.
Und wo war Gott? Ich finde eine Antwort in den Psalmen, in den Gebeten, die Israeliten vor mehr als zweitausend Jahren aufgeschrieben haben. Klage und Sehnsucht sprechen aus diesen Texten. Da klingen die Sorgen und Freuden der Menschen in einer überwältigenden Poesie.
Wo ist Gott? Ein Psalmbeter schreibt: »Ich hatte eine einzige Bitte an den Herrn. Nichts anderes wünsche ich mir: Ich möchte im Haus des Herrn sein alle Tage meines Lebens. Ich möchte die Schönheit des Herrn schauen und sie im Inneren seines Tempels betrachten. Denn er bewahrt mich in seiner Hütte am Tag, an dem mir Unheil droht. Er bietet mir Schutz unterm Dach seines Zeltes, er hebt mich hoch auf einen sicheren Felsen.« (Psalm 27,4-5)
Gott ist in seinem Tempel. Ja, ganz sicher ist Gott in der glanzvollen Schönheit, vor der wir staunend stehen. Gott ist in den großen Kathedralen, die mich staunen lassen, wozu Menschen fähig sind, und Gott ist in den majestätischen Bergen, um die der Adler frei kreist. Da ist Gott. Ganz sicher. Diese Wunder darf ich sehen. Selbst mitten im größten Elend hat eine Blume am Wegrand oder ein zerknülltes Gottesbild im Portemonnaie Menschen getröstet. Gott ist ganz bestimmt in seinem Tempel, in der Schönheit von allem, was ist.
Der Psalmbeter findet Gott genauso in der bescheidenen Hütte. Die Hütten, in die wir uns zurückziehen, die uns bergen und beschützen, sind heilige Orte. Es sind unsere Häuser, die uns von der Welt da draußen abgrenzen. Es sind die warmen Decken, unter die wir schlüpfen, um dem Unheil für einen Moment zu entgehen. Es sind die Kleider und Habseligkeiten, die uns wärmen, wenn die Welt immer kälter wird. In Hütten aus Laub saßen fromme Juden nur wenige Tage vor den Anschlägen. Da ist Gott: in der Hütte am Tag, an dem mir Unheil droht.
Nicht einmal Hütten sind den Menschen in Israel geblieben. Häuser sind zerstört und zu Gräbern geworden. Viele sind in Notunterkünften untergebracht. Der Psalmbeter kannte solche Zeiten, in denen kein Stein mehr auf dem anderen steht. Da fand er Gott in einem Zelt. In der kleinsten menschlichen Behausung lässt Gott sich sehen und bleibt an der Seite seiner Menschenkinder. Gott kommt in die Zelte mit einer warmen Suppe, mit Verbandsmaterial, mit einer Umarmung, mit tiefem Schweigen, weil es keine Worte mehr gibt. Da ist Gott: unter der dünnen Zeltplane, die Sonne und Regen fürs Erste abhält.
»Wo ist denn dein Gott?« Israel hat in seiner Geschichte unendliches Leid erlebt und trotzdem gewusst, dass Gott da ist, selbst im kleinsten Zelt.
In diesen Tagen hoffe ich, dass wenigstens das den Menschen bleibt, dass einer da ist, der ein Zelt aufspannt und die Menschen wieder auf sicheren Fels stellt.