Verstecktes Leben

Von Pastor Thomas Ziaja
Der Urlaub war wunderschön, eine Zeit in den Bergen mit langen Wanderungen. Es war heiß und trocken, ideales Wetter für einen Urlaub. Wir kehren zurück und laden das Auto aus. Koffer und Taschen werden ins Haus gebracht und ausgepackt. Die Wandersachen kommen in die Abstellkammer, bis wir sie wieder brauchen.
Ein paar Wochen später schnappe ich mir wieder den Wanderrucksack für eine Herbsttour. Ich hole ihn hervor und will alles beladen. Während alle Koffer ausgepackt wurden, war der Rucksack nur achtlos in eine Ecke gepackt worden. Unbeobachtet hat er sein Dasein gefristet und in sich eine Flasche verborgen. Die Flasche ist noch zur Hälfte gefüllt mit Wasser aus einem Bergbach. Mir war auf der letzten Wanderung das Trinken ausgegangen und ich habe mir eine Notration abgefüllt. Ein wenig mehr Aufmerksamkeit hätte dem Rucksack und seinem Inhalt gutgetan. Das klare Wasser aus dem Sommer hat einen smaragdgrünen Stich bekommen.
Buntes Leben tummelt sich darin. Ich betrachte es eine Weile fasziniert und mit leichtem Ekel. Ich öffne die Flasche draußen im Garten. Im Haus wage ich das nicht. Ich gebe der Natur ihr Leben wieder zurück und koche die Flasche erst einmal aus. Für diese Tour muss eine andere Flasche ran.
Jesus trifft einmal eine Frau an einem Brunnen. Es entspinnt sich ein Gespräch über Wasser und er sagt zu der Frau: „Wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, wird nie wieder Durst haben. Denn das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle werden: Ihr Wasser fließt und fließt – bis ins ewige Leben.“ (Johannes 4,14)
Ich stelle mir das, was Jesus da verspricht, wie meine Flasche vor. Da fließt Wasser direkt vor deinen Augen und du greifst zu, weil du Durst hast. Du denkst nicht darüber nach, was alles in diesem Wasser ist. Es ist nicht steril, abgekocht, gechlort und gefiltert. Es ist voller Leben. Deinem gesunden Abwehrsystem macht das nichts aus. Du trinkst, weil du Durst hast. Quellwasser, Wasser des Lebens.
Du lebst vor dich hin und die Welt scheint klar und durchsichtig zu sein, wie Wasser eben. Du nutzt deine Kräfte, deine Fähigkeiten, alles, was in dir liegt wie selbstverständlich. Du lebst mit Freunden und Familie, tust deine Arbeit, sorgst dich um dies und das, tagein und tagaus. Das Leben plätschert so dahin. Aber unter der Oberfläche bleibt das meiste verborgen, die ganzen Kräfte und Fähigkeiten, die auch in dir stecken, all das Leben, das du in dir trägst: Wasser des Lebens.
Unentdeckt schlummert Leben in dir, das noch nicht gelebt ist. Erst wenn dieses Lebenswasser zur Ruhe kommt, warm und dunkel in einer Ecke vor sich hin gärt, zeigt sich eine andere Seite des Lebens. In der Kirche ist die Zeit vor Ostern dafür da. Manche Menschen fasten, andere machen geistliche Übungen. Diese Zeit lässt Seiten in mir zum Vorschein kommen, die sonst mit dem Lebensfluss weggespült werden. Sie gehen unter im Alltag. Doch für einen Moment bremsen wir die Zeit und lassen das gären, was Ruhe braucht, damit das Wasser des Lebens zum Vorschein kommt.
In mir steckt verstecktes Leben, das sich entwickeln will und kann. Dazu verlangsame ich ein Mal im Jahr den Fluss, versuche ihn so still wie möglich zu halten. In jedem Jahr entdecke ich neue Seiten. In diesem Jahr habe ich herausgefunden, wie gut mir das Beten mit dem ganzen Körper tut, wenn sich Bewegungen und Begegnung mit Gott verbinden und ich in einen neuen Fluss komme. Ohne die Gärungszeit, in der das Wasser still steht, wäre mir das entgangen. Da ist verstecktes Leben in dir. Lass es gären und wachsen, bis es smaragdgrün schimmert. Aber dann schütte es nicht weg, sondern mach etwas daraus, das lebt.