Aufstehen, weil das Leben ruft

Nachdenkliches von Pastor Thomas Ziaja
Es ist stockdunkel, wenn der Wecker klingelt. Ein schriller Ton, mitten in der Nacht.
4.30 Uhr. Alle anderen schlafen noch. In mir rührt sich Widerstand. Wer hat sich das ausgedacht, Ostern so früh zu feiern? Osternacht um 5.30 Uhr! Wenn ich jetzt die Snooze-Taste betätige, wird es nie etwas. Aber alles in mir brüllt: noch fünf Minuten. Nur fünf Minuten mehr.
Ich stehe auf und mache mich fertig. Die Osternacht wartet nicht. Ich wälze mich aus dem Bett, schleppe mich ins Bad. Kaltes Wasser ins Gesicht, Kaffee in die Tasse.
„Ich habe keine Lust, mich auf den Weg zu machen“, denke ich vor dem ersten Schluck Kaffee. Am Boden der Tasse denke ich dann: „Aber du weißt, welches Wunder auf dich wartet.“ Der Zwang, sich so früh auf den Weg zu machen, gegen das Versprechen, dass dieser Morgen etwas Besonderes ist.
Die Kirche liegt noch im Dunkeln, als ich ankomme. Der Küster werkelt am Osterfeuer, die Kantorin sortiert sich. Eine kleine Gruppe Menschen steht fröstelnd beisammen.
Wir beginnen zu singen. Die Osterkerze wird entzündet, ihr Licht wandert von Hand zu Hand. Wir ziehen in die Kirche ein, und der dunkle Raum erwacht. Von Minute zu Minute wird es heller. Der Schlaf verschwindet, das Leben erwacht.
Es gibt Menschen, die das Aufstehen als Zumutung empfinden. Der Wecker schrillt wie ein Befehl: Aufstehen! Loslegen! Funktionieren! Kein Wunder, dass irgendwann jemand die Snooze-Taste erfunden hat, für diesen kurzen Aufschub. Die Osternacht fühlt sich anders an. Da ist kein Befehl, kein Zwang. Nur eine Einladung: Wach auf vom Schlaf, erhebe dich vom Tod, denn Christus wird dein Licht sein.
Gott ist offenbar ein Morgenmensch. Er begegnet den Menschen in der Frühe. Abraham bricht bei Sonnenaufgang auf in die Zukunft, die Gott verspricht. Die Frauen am Grab, die als Erste die Auferstehung erleben, sind noch vor Tagesanbruch unterwegs. Der neue Tag ist ein Versprechen Gottes, dass es nicht zu spät ist, um aufzustehen, um neu anzufangen. In diesem frühen Licht liegt ein Geheimnis. Es ist, als wäre die Welt noch nicht ganz entschieden, als wäre sie offen für Wunder.
Wenn in der Osternacht die Sonne durch die Kirchenfenster fällt, hat die Müdigkeit nachgelassen. Ich stehe aufrecht und singe laut. Ich sehe die Menschen, die heute früh wach geworden sind, sich auf den Weg gemacht haben, nicht aus Pflicht, sondern aus Sehnsucht. Sehnsucht nach Licht, nach Leben, nach Gnade. Ich bin einer von ihnen.
Draußen beginnt ein neuer Tag. Nicht jeder Morgen fühlt sich so an wie dieser. Aber jeder Morgen trägt eine Einladung in sich. In einem neuen Tag, den Gott schenkt, steckt kein Zwang, sondern eine neue Möglichkeit. Die Welt erwacht, und ich mit ihr. Und
vielleicht, denke ich, ist genau das das Wunder von Ostern.
Während die Kirchenglocken noch lange nach dem Gottesdienst läuten, bleibe ich
stehen. Die ersten Sonnenstrahlen tauchen die Welt in goldenes Licht. Ein Vogel beginnt zu singen, dann ein zweiter. Ich höre das Knistern des noch glimmenden
Osterfeuers, das langsam verlischt. In diesem Moment ist alles neu, alles frisch,
als wäre die Schöpfung gerade erst geboren worden.
Und plötzlich weiß ich: Es lohnt sich, aufzustehen. Es lohnt sich, den neuen Tag zu begrüßen. Nicht, weil es müßig ist zu schlafen, sondern weil es ein Geschenk ist, wach zu sein. Der Ostermorgen ruft mich ins Leben. Wenn der Wecker am nächsten Morgen klingelt, versuche ich diesen Weckruf wieder zu hören. Ich stehe auf und das Leben liegt vor mir.