Nicht erst, wenn ich die Hand hebe

Nachdenkliches von Pastor Thomas Ziaja

„Ich weiß, dass ich nicht zustimmen kann, und am Ende werde ich es doch tun.“ Der Gedanke geht mir auf dem Weg zu einem Termin durch den Kopf. Ich wäge Argumente ab und denke über meine Position nach. Im Sitzungssaal liegt alles bereit: Tagesordnung, vorbereitete Unterlagen, stilles Wasser, ein paar gelangweilte Gesichter, ein paar gespannte. Es herrscht Routine, aber irgendwie auch nicht.
Tagesordnungspunkt vier wird aufgerufen. Da müssen wir uns entscheiden, und ich weiß, dass mir die Entscheidung, auf die es hinausläuft, nicht passen wird.
Ich hatte mir vorgenommen, das anzusprechen. Ich wollte zum Nachdenken anregen. Doch dann kommt der Kaffee, dann die ersten Wortmeldungen, dann die Reihenfolge der Punkte. Ich schweige. Vielleicht ist jetzt nicht der richtige Moment. Bestimmt passt es gleich noch. Ich verfolge die Diskussion. Ich frage einmal nach, etwas sarkastisch. Ich wundere mich über die Haltung der anderen, über die Richtung, über die Sprache, über das, was zwischen den Zeilen mitschwingt. Da liegt Streit in der Luft, aber keiner sagt wirklich was, ich auch nicht.
Schließlich wird abgestimmt. Alle Hände gehen hoch, auch meine, und ich stimme zu. Zack, vorbei, nächster TOP. Und sofort danach spüre ich etwas in mir, wie ein Muskel, den man zu lange angespannt hält. Da ist dieses leichte Unbehagen, weil ich mich nicht getraut habe zu sagen, was hätte gesagt werden sollen. Ich wusste, was ich dachte. Aber ich habe es niemandem gezeigt.
Jesus sagt: „Eure Rede sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Bösen.“ Ein klarer Satz. Da ist kein Schlupfwinkel. „Vielleicht“ und „später“ kommen darin nicht vor. In diesen Worten ist kein Raum für die Maskerade der Zustimmung. Ich höre den Satz von Jesus und weiß, was gemeint ist: „Zeig, was du denkst. Und sag es, bevor du handelst. Geh nicht auf Angriff, aber zeig Haltung.“
Wir Menschen sind nicht perfekt. Ich zaudere und wäge ab. Ich habe Angst, jemanden zu enttäuschen oder mich zu verrennen. Aber tief drin in mir ist diese Stimme, die es immer besser weiß, mein Gewissen. Es meldet sich nicht mit Blitz und Donner. Es spricht zu mir mit dem Grummeln in der Magengrube und dem Kribbeln in den Fingern. Sofort weiß ich: Das musst du anders machen. Aber meistens bleibt es beim Konjunktiv: Das müsstest du anders machen.
Am Abend sitze ich zu Hause mit einer Tasse Tee, die vor sich hin dampft. Ich denke zurück an diesen Morgen, an mein Schweigen, an mein Nicken. Und ich frage mich, ob ich beim nächsten Mal den Mut habe, vorher zu sprechen. Es muss ja kein Aufschrei sein, einfach sagen, was ich sehe, was mich wundert, was mir fehlt. Ich will klar sein aus Respekt vor mir und vor den anderen. Für mich, damit mein Grummeln mich nicht mehr quält. Für die anderen, damit wir uns ehrlich in die Augen sehen können.
Was ich sage oder nicht sage, bleibt. Es haftet an mir als Schuld und es prägt das Miteinander. Es baut Vertrauen auf oder zerstört es leise und heimlich. Wenn ich aber nur beim Heben der Hand meine Maske einen kleinen Moment lüfte, dann ist es zu spät für Ehrlichkeit. Die Chance will ich nicht verpassen.
„Ja, ja; nein, nein.“ Es ist eigentlich kein harter Satz. Darin steckt die Einladung zur Klarheit, lange vor dem Moment der Entscheidung. Andere sollen wissen, woran sie bei mir sind, damit wir uns nicht verlieren.
Ich stelle meine Tasse ins Spülbecken. Draußen wird es dunkel. Aber in mir ist ein kleiner Entschluss gewachsen. Beim nächsten Mal sage ich’s, bevor ich die Hand hebe. Was meine Hand dann entscheidet, wird dann nicht unbedingt richtiger sein, aber aufrichtig und klar.