Das Leben steht auf dem Spiel

Nachdenkliches von Pastor Thomas Ziaja
Vom oberen Stockwerk des Pfarrhauses schaue ich auf den Friedhof, der um die Kirche herum liegt. In der Nacht sehe ich Kerzen brennen, am Tag Menschen, die die Gräber pflegen. Ein paar Tage nach Ostern sehe ich ein kleines Wesen über den Friedhof laufen mit einem weiten Mantel und blonden Zöpfen an jeder Seite des Kopfes. Ich frage mich, was dieses Mädchen alleine auf dem Friedhof macht. Um alleine unterwegs zu sein, ist es eigentlich zu klein. Das Mädchen läuft leichtfüßig, ist auf der Suche nach etwas. Es läuft zwischen den Gräbern umher, aber es scheint sich nicht verloren zu fühlen. Das Mädchen ist sich sicher, dass es finden wird, was es sucht.
Dann sehe ich, wonach das Mädchen Ausschau hält. Ein Mann, groß und schlank, versteckt sich hinter einer genauso geformten Thuja, einem Lebensbaum. Er schaut immer mal wieder links und rechts daran vorbei. Erst beim dritten Mal entdeckt das Mädchen den Mann, läuft auf ihn zu und fällt ihm in die Arme. Dann gehen die beiden weiter über den Friedhof, Hand in Hand.
»Der Friedhof ist kein Spielplatz!«, sagen einige. Das stimmt sicher, er darf kein Ort wie jeder andere sein. Auf einem Friedhof muss Raum für Ruhe und Trauer sein, für Reden mit denen, die nicht mehr da sind, für Gedanken und Träume. Aber die Szene, die ich da beobachtet habe, gehört für mich genauso auf einen Friedhof.
Zwei Menschen mitten im Leben machen den Friedhof zum Lebensort. Das ist die Geschichte von Ostern, die Erzählung, in der ein Engel zwei Frauen sagt:
»Warum sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier.«
Auf dem Friedhof spielt Jesus mit den Frauen Verstecken. Er zeigt sich nicht direkt, versteckt sich hinter Worten, Erscheinungen, Andeutungen. Die ersten Lebenszeichen von Ostern sind ein Spiel. Die beiden Frauen entdecken die Lebensfreude wieder und Jesus fordert sie dazu heraus. Ostern ist die Herausforderung, die Suche nach dem Leben unter keinen Umständen aufzugeben.
Unsere Gemeinde unterstützt seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine Geflüchtete. Am Anfang war viel Sorge im Raum und kaum einer hat im Sinn gehabt, dass das Leben weitergehen könnte. Das ist auch heute noch im Raum und gleichzeitig ist da diese Suche nach dem Leben. Inzwischen wird dort viel gelacht und Kinder spielen. Die Geflüchteten sprechen die Sprache, die am Anfang nur das Smartphone übersetzen konnte. Das Versteckspiel des Todes ist nicht mehr allmächtig, weil die Menschen die Suche nach dem Leben unter keinen Umständen aufgegeben haben.
Die Suche nach dem Leben darf nicht aufhören. Wie wäre die Szene für Menschen gewesen, die einen geliebten Menschen verloren haben; wenn das Kind nun nicht auf seinen Vater zugelaufen wäre, sondern auf eine Frau, die ein Grab pflegt oder einen Mann, der über den Friedhof spaziert. Dann wäre das Versteckspiel des Todes nicht mehr allmächtig gewesen, jedenfalls für einen kleinen Moment. Diese Menschen hätten gesehen, dass da Leben um sie herum ist, wo vorher nur der Tod sichtbar war.
Darf man auf dem Friedhof Verstecken spielen? Ich würde sagen, man darf unter keinen Umständen damit aufhören zu suchen. Wenn ich das Suchen aufgebe, dann habe ich aufgehört zu leben. Ich suche das Leben, die Hoffnung, den Glauben, die Liebe an den unmöglichsten Orten. Auch da, wo es sinnlos erscheint, höre ich nicht auf, danach zu suchen, nicht bei den Geflüchteten, nicht auf den Friedhöfen, nicht in den Krankenzimmern und auf den Kriegsschauplätzen. Mit dem Suchen steht nicht mehr und nicht weniger auf dem Spiel als das Leben selbst.
Der Auferstandene hat die Frauen zum Spiel auf Leben und Tod herausgefordert. Hinter dem Spiel steht ein Versprechen: »Ja, wenn ihr von ganzem Herzen nach mir fragt, dann lasse ich mich von euch finden.« (Jeremia 29,13f.) Am Ende hat Gott für mein Lebensspiel beschlossen, wenn ich mich darauf einlasse und das Suchen nicht aufgebe, werde ich gewinnen.