Güte wagen

Von Pastor Thomas Ziaja

»Ernst sein ist alles«, lautet der Titel einer Komödie voller Verwirrung und Wortwitz. Geschrieben hat sie Oscar Wilde. In diesem Stück müssen Ausreden erfunden werden, um an dem einen und nicht an dem anderen Ort zu sein. Es wird gelogen, um sich treffen zu können. Die Verwandtschaft ist irritiert, wütend, entsetzt. Das Theaterstück hat Oscar Wild sich von der Seele geschrieben. Genau so musste er oft leben am Ende des 19. Jahrhunderts, denn er war homosexuell.
Er konnte seine Liebe zu Männern nicht offen leben. Er musste sich in Heimlichkeiten und Prostitution flüchten. Er musste das, was sein Herz bewegt, verstecken. Eigentlich war es ein offenes Geheimnis, aber man sprach nicht darüber. Das änderte sich im Februar 1895, dem Jahr, in dem Oscar Wilde die Komödie schrieb. Der Vater seines Geliebten outete Wilde öffentlich. Das zog eine Anzeige und eine Gerichtsverhandlung nach sich. Homosexualität stand unter Strafe.
Im September 1895 verließ Oscar Wilde einen Gerichtssaal. Er war gerade für bankrott erklärt worden, kurz nachdem er wegen seiner Homosexualität verurteilt worden war. In Kürze würde er ins Gefängnis kommen, aber im Moment war er frei, den Gerichtssaal zu verlassen. Er kämpfte sich einen Weg durch die Menge, die sich versammelt hatte, um ihn zu beschimpfen. Da trat ihm Robbie Ross in den Weg, ein Freund von Wilde, der schon seit Stunden auf diesen Moment gewartet hatte, schaute ihm bewusst in die Augen und zog seinen Hut.
Er zog seinen Hut! Das war eine Ehrbezeugung für einen verurteilten Verbrecher. Mehr noch: Robbie Ross setzte sich der Gefahr aus, selbst verurteilt zu werden. Auch von ihm wusste man um seine Homosexualität. Er traute es sich trotzdem, ein Zeichen der Menschlichkeit zu setzen. Dass Menschen etwas, das ihnen viel bedeutet, verheimlichen, kommt oft vor. Als Seelsorger höre ich immer wieder davon, und als Mensch kenne ich das auch für mich. Was sagen die anderen, wenn sie dies oder das von mir wissen? Es muss nicht gleich die sexuelle Orientierung sein. Jeder Mensch hat seine kleinen Geheimnisse, die vielleicht nicht einmal die Partnerin oder der Partner kennen. Dahinter steht Scham oder die Ablehnung durch andere. Beides ist gefährlich. Scham verzehrt einen Menschen, Ablehnung zerstört. Offenheit und Wertschätzung dagegen bauen einen Menschen auf. Viele berichten, als sie ihr Geheimnis geteilt hatten, ging es ihnen besser. Sie verloren vielleicht Freunde, aber fanden ihre Freiheit und Frieden.
Über die Szene mit Robbie Ross vor dem Gerichtssaal schreibt Oscar Wilde später: »Menschen sind für weniger als das in den Himmel gekommen … [Oft] hat die Erinnerung an diesen kleinen, reizenden, stillen Akt der Liebe für mich alle Brunnen des Mitleids entsiegelt: die Wüste wie eine Rose erblühen lassen und mich aus der Bitterkeit des einsamen Exils in Harmonie mit dem verwundeten, gebrochenen und großen Herzen der Welt gebracht.«
Die Liebe, die in dieser kleinen Szene liegt, wiegt die Verletzlichkeit auf. Im 27. Psalm betet einer zu Gott, klagt die Übeltäter an, weint über sein Schicksal und kann trotzdem diese Worte sagen: »Ich glaube aber doch, dass ich sehen werde die Güte des Herrn im Lande der Lebendigen.« (Psalm 27,13)
Manchmal bricht die Güte des Herrn mit einem Paukenschlag in das Land der Lebenden ein. Viel öfter kommt sie in kleinen, lieblichen, stillen Taten daher. Wo Menschen sich in dieser Güte begegnen, da sind Freiheit und Leben.