Nachtlicht

Nachdenkliches von Pastor Thomas Ziaja

Als Pastor komme ich in viele Wohnungen. Es gehört zu den schönen Seiten meines Berufs, dass ich Menschen ganz privat kennenlernen darf. Ich schaue in Wohnungen und entdecke kleine Eigenheiten, Besonderheiten, die diesen Menschen ausmachen. Das ist ein großes Geschenk für mich. Vor ein paar Jahren habe ich eine ältere Frau zu ihrem Geburtstag im Mai besucht. Es war so ein wunderbarer Frühlingstag, fast schon sommerlich, mit Sonnenschein und blühenden Blumen. Sie bat mich herein und wir setzten uns auf die Terrasse. Wir unterhielten uns über dies und das. Ich bewunderte ihren schönen Garten und während wir so sprachen, entdeckte ich etwas in ihrem Wohnzimmer. Ich konnte es von meinem Platz auf der Terrasse genau erkennen.
In der Ecke stand ein Tannenbaum. Natürlich war es kein echter Baum. Der Kunstbaum war komplett geschmückt mit Lichterkette und Sternen. Im Garten blühte der Rhododendron, im Wohnzimmer blinkte der Weihnachtsbaum. Er war tatsächlich in Betrieb mit seiner bunten Lichterkette. Das kam mir schon ein bisschen seltsam vor.
Ich sprach die Frau darauf an: »Für sie ist wohl immer Weihnachten?« »Ach, Sie haben meinen Baum entdeckt. Ja, den brauche ich das ganze Jahr. Wissen Sie, das Licht muss doch scheinen, im Sommer wie im Winter.«
Da erschien mir die Frau nicht mehr so seltsam. Sie war umsichtig, realistisch und sogar mutig. Man kann durch das Leben gehen und denken, dass man alles Licht hat, das man braucht. Man kann sich vorstellen, dass die Jahreszeiten immer hell sein werden, dass die Nacht niemals den Tag überwältigen wird. Man kann an das Gute glauben oder daran, dass der Glaube die Monster unter dem Bett in Schach hält.
Aber die Wahrheit ist, dass es keine Jahreszeit gibt, die so hell ist, dass sie nicht allmählich oder plötzlich überschattet wird. Eine Diagnose vernichtet die Zukunft. Ein Krieg zerstört das Heim. Ein Erdbeben legt eine Stadt in Trümmer. Böse Dinge geschehen in der Nacht und am Tag. Diese Dame wusste, dass sie in ihrem Leben Licht braucht. In ihrem Haus blieb das Licht an, so wie das Nachtlicht meiner Kinder jede Nacht leuchtet. Wir Menschen sind nicht für die Finsternis geschaffen. Wir brauchen Licht und Helligkeit, damit die finsteren Dinge, die in der Welt passieren, nicht die Oberhand gewinnen.
Gerade war Ostern, das Fest, an dem wir mit Lichtern in die dunkle Kirche einziehen und rufen: »Christus, das Licht!« In einem halben Jahr ist Weihnachten und wir singen vom Licht, das in die Welt gekommen ist. Jesus sagt sogar einmal von sich: »Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.« (Johannes 8,12) Er ist ein Nachtlicht, das an den Orten brennt, die uns am meisten Angst machen, und das uns leuchtet, damit wir keine Angst haben. Er kennt die Schatten und weiß, was dort lauert. Ohne Licht wird er uns nicht dorthin bringen.
Wenn wir lernen, ihm zu vertrauen, dann werden wir selbst zu einem Licht für die Welt. Wir fangen an, uns zu besuchen und uns von unseren Eigenarten, unseren Ängsten, unseren Besonderheiten zu erzählen. Es ist wie mit der Frau und ihrem Tannenbaum. Unser Auftrag ist, für andere ein Licht zu werden. In den Sonnentagen lachen wir miteinander, in den düsteren zünden wir ein Licht an. So werden wir das, was Jesus immer schon in uns gesehen hat, als er sagte: »Ihr seid das Licht der Welt. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten. Sie sollen eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen.« (Matthäus 5,14f.)