Aussicht mit Zimmer
Es gibt hier in Oberneuland Häuser, die so groß sind, dass unser Garten ohne Probleme darin Platz finden würde. So ein kleiner schnuckeliger Garten würde so manchem dieser äußerlich interessanten Gebäude innerlich guttun. Bei uns ist das anders. Unser Haus ist im Vergleich zu Tiny Houses riesig, geradezu ein Schlösschen.
Immerhin hat es ein Schlafzimmer, ein Umkleidezimmer für meine Frau, ein Umkleidezimmer für mich und ein Schuhzimmer. Dabei handelt es sich allerdings um einen einzigen Raum – mit vier verschiedenen Namen. Im Erdgeschoss wären es normalerweise drei Zimmer: Wohnzimmer, Esszimmer, Küche. Ja, ich weiß, die Küche zählt nicht als Zimmer, die Gäste-Toilette auch nicht, selbst der Flur geht nicht als Wohnraum durch, obwohl ich da mal für mehrere Wochen ein Bett aufgestellt habe, es also im Grunde ein weiteres Schlafzimmer war.
Warum ich das gemacht habe? Wir hatten einen Freund zu Besuch, den wir drei Tage gut ertragen, der uns aber für vier Wochen besuchen wollte. Durch die Einrichtung des Schlafzimmerflurs beziehungsweise des Flurschlafzimmers … reduzierten wir seinen Aufenthalt auf elf Tage, was sicherlich am nicht so erholsamen Zimmerflurschlaf beziehungsweise Flurzimmerschlaf lag. Durch die Idee des Schlafflurzimmers beziehungsweise des Zimmerschlafflurs kam mir eine Idee, eine freundfreundliche Idee. Wir brauchen mehr Zimmer. In den eigenen vier Wänden ist das kaum umzusetzen. Es ist mir zwar gelungen, mithilfe einer sehr großen Motivtapete an der Decke die Illusion eines Turmzimmerchens im zweiten Stock zu erreichen. Aber mehr geht nicht in diesen vier Wänden.
Von eben diesem Arbeitszimmer schaute ich in unseren Garten, und dann fiel es mir wie … wie … wie Schuppen aus der Garage, nein, wie Ziegel vom Dach, nee, wie Schuppen aus den Ohren. Sie wissen, was ich meine. Plötzlich gelang es mir, es zu durchblicken, zu durchsehen, zu durchschauen. Das lag auch daran, dass ich wenige Tage zuvor die Fensterscheiben des Arbeitszimmers geputzt hatte. Endlich – nach all den Jahren – begriff ich, was in unserem Garten fehlte. Die Antwort bestand aus einem einzigen Wort: Zimmer. Draußenzimmer. Gartendraußenzimmer.
Gesagt, geguckt, gemessen, gekleinkreditet, gefeilscht, gekauft, gestylt, gerichtet, genossen, getan.
Am Ende war es ein komplettes Zimmer mit Stühlen, Tischchen, Vasen, Sofa, Vitrine und vielem Schnickschnack. Der Clou sind vier Wände, die gar keine sind. Sie kennen das vielleicht von den Bannern, die man beim Fußball hinter dem Tor sieht. Im Fernsehen wird der Eindruck geweckt, diese Banner würden auch eine Höhe haben, also dreidimensional sein. Mit genau dieser optischen Täuschung haben auch wir in unserem Gartenzimmer gearbeitet. Es sieht von oben aus wie fein tapezierte Wände mit einigen geschmackvollen Gemälden von van Gogh, Klimt und Monet, die kennen wir alle drei gut. Isabella van Gogh, Karl-Heinz Klimt und Mia Monet. Sind alles Bekannte von uns. Natürlich sind es nur modifizierte Kopien von Drucken. Originale von Isabella, Karl-Heinz und Mia könnten wir uns gar nicht leisten.
Wenn man in diesem Draußenzimmer, kurz DrauZi, sitzt, fühlt man sich sauwohl. Denn die Wände, die man von oben sieht, sind aus der Nähe betrachtet nur abwechslungsreich gemusterte Teppiche. Das, was man im Sessel sitzend sieht, ist Natur pur … also von Menschenhand gestaltetes Grünzeug. Aber immerhin. Man sieht und hört zwitschernde Vögel, sich von Ast zu Ast schwingende Eichhörnchen, niedliche Insekten (diese beiden Wörter wollte ich immer schon mal hintereinander schreiben), turtelnde Tauben, flatternde Fledermäuse, flatternde Tauben und turtelnde Fledermäuse.
Ein Oberneulander Zimmer, sagen wir ein norddeutsches Zimmer, besser ein deutsches Zimmer ist kein Zimmer, wenn darin nicht ein Haufen Geräte stehen. Das ist auch in unserem besonders eingerichteten Außenraum der Fall. Es gibt dort nichts, was es nicht gibt. Teil des Zimmers im Grünen sind ein monströs großer Flachbildfernseher, eine stylishe Stereoanlage, zwei verstreut herumliegende Tablets, drei Nachttischlampen, zwei Tagtischlampen, eine Zwielichtlampe, eine Spielkonsole und ein Ergometer. Alles wasserabweisend, wasserfest, wasserdicht. Man könnte, wie man es von Taucheruhren kennt, sogar sagen, alle Geräte sind water-resistant (formally known as waterproofed) bis zu einer Tiefe von 30 Metern.
Wer nun glaubt, es handele sich um extrem teure High-End-Geräte, der täuscht sich.
In Wirklichkeit sind es ausnahmslos Attrappen, die ich im Laufe vieler Monate von verschiedenen Möbelhäusern für kleines Geld zusammengekauft habe.
Die Vorteile liegen auf der Hand. Man hat zwar einen Fernseher, muss aber nicht fernsehen. Man hat zwar ein Tablet, muss aber nicht tableten. Man hat zwar einen … ich glaube, das Prinzip ist klar. Ich habe schon viele Stunden in unserem DrauZi verbracht. Das regt die Fantasie an.
Selbst wenn man mal schlecht gelaunt ist, kann man die Gegenstände beschimpfen. Als ich einmal in so einer Stimmung im DrauZi war, fiel mir auf, dass man eine Tagtischlampe entweder beschimpft, indem man sagt: „Du blöde Tagti!“ oder man bedenkt sie mit den anderen acht Buchstaben.
Ich komme etwas vom Thema ab. Eigentlich möchte ich Sie ermuntern, doch auch so ein komplettes Zimmer in Ihrem Garten aufzubauen. Man sieht die Welt mit anderen Augen. Man merkt, dass es nicht immer möglich ist, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen.
Und das Beste ist: In einem DrauZi kann einem niemals die Decke auf den Kopf fallen.
Von Winfried Hammelmann, Oberneulander, Redakteur und Autor