Ein Tag zum ins Tischbein beißen

Es gibt Tage, an denen alles gelingt. Die kenne ich kaum. Es gibt auch Tage, an denen halten sich Gelingen und Misslingen die Waage. Und dann gibt es Tage wie diesen. An dieser Stelle muss ich einfügen, dass ich zwar in Satiren übertreibe, aber das tue ich nicht im wirklichen Leben. Und die nächsten Zeilen sind wirklich so passiert. Erwarten Sie keine komischen Katastrophen, unsäglichen Unfälle oder monströsen Missgeschicke.
Es sind die kleinen Geschichten, die in der Summe zum Wahnsinn führen.

Als Redakteur einer Radiosendung schneidet man unter anderem Beiträge oder Interviews oder Originaltöne (= O-Töne). Nun habe ich gerade so einen O-Ton am Wickel, schneide mehrere Versprecher heraus, es ist wenig Zeit; per drag and drop lasse ich sie der Moderatorin zukommen und merke nicht, dass ich aus Versehen die unbereinigte Version mit den Versprechern drag-and-drope. Da wenig Zeit ist, wird der Ton so gesendet. Das ist sehr ärgerlich.
Nach der Frühschicht geht es in die City. Ich parke vorm Café Knigge, laufe rein, will gerade bestellen, merke, dass ich mein Portemonnaie vergessen habe, zurück zum Auto, wieder von hinten durchs komplette Café, schnell bestellen, noch schneller bezahlen, blitzschnell zum Auto. Schon habe ich einen Bon bekommen, nach sechs Minuten! Ich bin im Unrecht. Ich bin verärgert im Unrecht.
Jetzt muss ich weiter, zu einem Schokoladengeschäft in der Obernstraße. Dafür parke ich im Parkhaus. Die Einfahrt ist geschätzt 38 Meter von Knigge entfernt. Wie blöd muss man eigentlich sein, nicht gleich in dieses Parkhaus zu fahren? Die Frage stelle ich nicht Ihnen, sondern mir.
Dann will ich mit dem Fahrstuhl nach unten – keine Zeit verlieren – frage ein älteres Paar, ob ich mit in den Fahrstuhl … nein, natürlich nicht, wegen Corona, sie haben recht. Ich ärgere mich trotzdem und warte lange auf den zweiten gläsernen Fahrstuhl, gucke schräg nach oben, wo der Nachbarfahrstuhl der älteren beiden hingefahren ist und sehe, wie dort eine dritte Person einsteigt. Aus (mir sonst nicht bekannter) Bosheit drücke ich, als mein Fahrstuhl die Tür schon geöffnet hat, draußen auf den Knopf, in der Hoffnung (so mies bin ich fast nie), dass die anderen einen Zwischenhalt einlegen müssen und ich schneller unten bin. Ich freue mich diebisch.
Ich warte (was ist bloß los mit mir?), bis neben-an der dritte Mann und dann das ältere Pärchen aussteigen. Ich höre mich sagen: „Na, wohl doch zu dritt gefahren, was?“
Dabei grinse ich freundlich und übertrieben lange. Schnellen Schrittes durchquere ich das Kaufhaus. Ich sehe Kundinnen und Kunden mit Masken. Auch ich trage so ein blaues Ding. Erst jetzt kommt mir in den Sinn, dass die älteren Herrschaften mein breites Joker-Grinsen gar nicht gesehen haben. Zum Ärger gesellt sich eine kleine Portion Wut. Einmal durchatmen. Weiter.
Also zum Edelschokoladen oder heißt es Schokoladenladen, um im Laden Schoko zu laden, na ja, laden klingt nach vielen Kakaoprodukten. Es ist aber eine sehr kleine Schokoladenladenladung, im Grunde sind es fünf kleine Bruchstücke. Und so ist es für die Dame hinter den Pralinen und Tafeln eine Bruchrechnung. Sie sagt: „Das macht dann 13,35 Euro.“ Mir liegt Folgendes auf der Zunge: „Sie müssen die fünf Zahlen nicht multiplizieren, sondern addieren!“ Tatsächlich kommt mir etwas anderes über die Lippen: „Wollen Sie mich ver …“ Mehr sage ich nicht. Ich überlege, wie ich diesen Satz zu Ende bringen kann, ohne dass es peinlich wird. Ich überlege. Wollen sie mich ver … Wollen Sie mich fer … fertigmachen? Nein.
Ich hab‘s und sag’s: „Wollen Sie mich fair … fairerweise an der Berechnung teilhaben lassen?“ Zu spät. Gesagt ist gesagt. Nachgestottertes hilft nicht. Ich gebe 15 Euro und sage: „Stimmt so.“
Zurück zum Hochgaragen-Fahrstuhl. Ich habe vergessen, in welchem Stock mein Auto steht. Auf Verdacht steige ich im fünften Stock aus. Ich suche und finde durch die Glasscheiben blickend mein Auto nicht. Ich drehe mich um. Der Fahrstuhl ist weg. Warten, warten, warten. Dann einsteigen. Der Fahrstuhl fährt wieder ins Erdgeschoß. Eine Frau steigt mit ihrem erwachsenen Sohn dazu. Wir sind jetzt drei Personen!
Das macht mich schon fast aggressiv. Die Mutter drückt auf Fünf. Die beiden haben ebenfalls vergessen, in welchem Stockwerk sie ihren Wagen geparkt hatten. Ich bleibe im Fahrstuhl, wünsche den beiden viel Glück bei der Suche, ich glaube, ohne Ironie. Kurz bevor die Fahrstuhltür sich schließt, sehe ich doch noch mein Auto im fünften Stock. Es gelingt mir gerade noch – fast hätte ich mir die Finger geklemmt – wieder auszusteigen. Vor meinem Wagen stehend, sehe ich, dass neben mir jemand so nah geparkt hat, dass ich kaum einsteigen kann. Ich quetsche mich hinein. Mir fallen innerhalb weniger Sekunden drei Lackzerkratzszenen aus bekannten Filmkomödien ein. Ich fahre mit dem Auto nach Schwachhausen, lasse das Erlebte Revue passieren, und höre ein Grummeln. Es klingt nach einem wilden Tier. Das animalische Geräusch kommt aus meinem Mund und ähnelt erst einem „Uuuuoooooh“, dann einem „Huuuäääh“, zuletzt einem „GRRRRRRH.“
Ab zum medizinischen Warenhaus. Ich muss den Wagen sehr schräg parken, verschätze mich und mache die erste kleine Beule in
unser schönes weißes Wägelchen. VERDAMMT NOCH EINS! Okay, was jetzt kommt, klingt nicht cool, lieber jüngerer Teil der Leserschaft. Ich muss zum Antithrombosestrumpfanpassen, weil ich in zwei Wochen eine Bein-OP habe (immer noch besser als zwei Bein OPs in einer Woche), und danach muss man solche Dinger tragen. Dort angekommen wird mir gesagt: „Oh, das geht nicht am Nachmittag. Also nicht, weil wir nicht wollen, sondern weil es unsinnig ist. Man muss Beine morgens messen, weil sie dann dünner sind.“ Ich spare es mir zu fragen, ob ich die Strümpfe dann auch nur morgens überziehen darf, und warum es keine Nachmittagsstrümpfe gibt oder Stehstrümpfe oder Nachtstrümpfe! Äußerlich freundlich verabschiede ich mich. Innerlich aber bin ich mittlerweile am Kochen. Ich versuche mich zu beruhigen, in dem ich an Kartoffeln, Spiegel-eier und Spinat denke. Ich bin also vegetarisch am Kochen.
In aller Ausführlichkeit berichte ich Regina von meinen „Abenteuern“.
Das wühlt mich auf, und ich muss es noch mal erzählen, was mich erneut aufwühlt. Ich beginne diese Zeilen zu schreiben. Zuvor hatte ich ein Glas Wasser mit ins Arbeitszimmer genommen und es zwischen Tastatur und Bildschirm gestellt. Das mache ich sonst nie! Und jetzt eben: Eine blöde Bewegung, schon kippt das Glas auf die Tastatur. Verzweifelt, traurig und wütend haue ich meine Fäuste auf die
Tastatur. Wasser spriiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii

Von Winfried Hammelmann, Oberneulander, Redakteur und Autor