Freundlich & tiefgründig

ÖG-Lehrer erforscht das Mumintal

Christian Panse übersetzt skandinavischen Kult-Comic.

Die Großmutter von Christian Panse hatte sechs Enkelkinder. Für sie bewahrte sie in einer Schublade ihrer Kommode viele Schätze auf. Magnetspiele lagen dort. Blech- und Plastikfiguren ebenso. Am meisten aber interessierten Christian Panse die kleinen Zeitungsstreifen, die er dort auch fand. Darauf gedruckt waren die Comics der Mumins. Christian Panse war sofort fasziniert von den nilpferdähnlichen Fantasiewesen, die die finnlandschwedische Künstlerin Tove Jansson (1914 bis 2001) in den 50er Jahren erfunden hatte. „Die Mumins waren freundlich, ihre Geschichten tiefgründig“, sagt der Musik- und Informatiklehrer am Ökumenischen Gymnasium in Oberneuland. Auch zeichnerische Details wie beispielsweise eine ganz besondere Baumrinde bezauberten ihn. Fünf Jahre war er damals alt. In den nächsten Jahren und Jahrzehnten las und sammelte der heute 53-Jährige alle Geschichten, die er aus dem Mumin-Universum finden konnte.
Er brachte sich selbst Schwedisch bei, die Originalsprache der Mumins. Jetzt hat er den Prototypen der Mumin-Comics aus dem Jahr 1947 ins Deutsche übersetzt. Das Buch „Mumin und der Weltuntergang“ ist soeben im Bremer Schünemann-Verlag erschienen.
Die Geschichten aus dem Mumintal, in denen die freundliche Muminbevölkerung nach einem langen Winterschlaf in jedem Frühjahr wieder neue Abenteuer erlebt, erschienen zwischen 1957 und 1962 im Weser-Kurier. Bevor die Comicserie begann, machte die Bremer Zeitung ihre Leser über Tage auf die lustigen Wesen neugierig. Auf der Seite „Zeitvertreib“ hieß es im November 1957: „Kennen Sie Mumin? Mumin ist ein etwas naives Wesen, sehr gutmütig, sehr neugierig. Er hat viel Gefühl und versteht es, allerlei Späße zu treiben.“ Und weiter erklärte ein Weser-Kurier-Redakteur: „Mumin ist übrigens kein Mensch. Aber auch kein Tier. Er, seine Familie und seine Freunde sind Phantasiegestalten der finnischen Künstlerin Tove Jansson.“ Über drei bis vier kleine Bilder mit Sprechblasen konnten sich die Bremer Leser dann sechsmal in der Woche freuen. Als nach 100 Streifen eine Episode zu Ende war, nähte die Großmutter von Christian Panse sie zusammen und legte sie in die Enkelschublade. Als Christian Panse sie dort Jahre später entdeckte, fehlten schon einige Streifen. „Ich hatte ja zwei ältere Cousins, die auch schon an der Schublade waren“, erinnert er sich lächelnd.
Erfunden hatte Tove Jansson, die Zeichnerin, Comicautorin, Schriftstellerin, Graphikerin, Illustratorin und Malerin war, die Mumins Mitte der 40er Jahre. 1945 erschien ihr erstes Kinderbuch „Mumins lange Reise“. Doch genau wie ihr zweites Mumin-Buch „Komet im Mumintal“ aus dem Jahr 1946 verkaufte es sich schlecht.
Ihr Freund, der Schriftsteller und Politiker Atos Wirtanen, ermutigte die junge Künstlerin, die Geschichte ihres zweiten Buchs als fortlaufende Bildergeschichte 1947 auf der Kinderseite seiner schwedischsprachigen Tageszeitung „Ny Tid“ in Helsinki zu veröffentlichen. Die in Helsinki geborene und gestorbene Tove Jansson war Finnlandschwedin. Sie gehörte dem kleinen Teil der finnischen Bevölkerung an, deren Muttersprache Schwedisch ist. Nach 25 Wochen wurden die Mumin-Abenteuer in „Ny Tid“ wieder eingestellt. 1954 aber bekam Tove Jansson einen Vertrag bei der Londoner Abendzeitung „The Evening News“. Sechs Tage in der Woche sollte sie von nun an drei bis vier Mumin-Bilder liefern. Tove Jansson selbst sagt über ihre lustigen Gestalten: „Die Muminfamilie, die ich zu beschreiben versuche, ist schlichtweg glücklich, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie haben es gemütlich miteinander, und sie gewähren sich gegenseitig volle Freiheit: Freiheit, allein zu sein, die Freiheit, auf eigene Art zu denken und zu fühlen und eigene Geheimnisse zu haben, bis zu dem Moment, wo sie bereit sind, sie zu teilen. Keiner verursacht je einem anderen ein schlechtes Gewissen.“
Ihr Bruder Lars übersetzt die Geschichten ins Englische. Die Mumins, die sich von nun an nicht nur an Kinder, sondern auch an Erwachsene richten, werden zum Welterfolg. Nach und nach werden sie in 40 Ländern abgedruckt und erreichen täglich mehr als 20 Millionen Leser. 1959 kündigt Tove Jansson jedoch ihren Vertrag mit der Zeitung. Der enorme Zeitdruck nimmt ihr die Freude an der Arbeit. Weltweit berühmt zu sein, überfordert sie. Ihr Bruder Lars, der die Comics nicht nur übersetzt, sondern auch den Zeichenstil seiner Schwester gelernt hat, übernimmt die Arbeit für weitere 15 Jahre. Die Comics werden in 120 Zeitungen in aller Welt abgedruckt und sind bis heute die erfolgreichste Comicserie Finnlands. „Die Comics mit der Muminfamilie trafen den Nerv der Zeit. Die Mumins waren unkonventionell und gleichzeitig human. Diese skandinavische Lockerheit kam an“, erklärt Panse.
15 Episoden hat die Großmutter von Christian Panse ausgeschnitten, zusammengenäht und gesammelt. In den 80er Jahren bekommt ihr Enkel ihre Sammlung von ihr geschenkt. „Sie wusste ja, wie sehr mir die Geschichten gefallen.“ Tagelang sucht er als junger Student in der Uni-Bibliothek im Mikrofilmarchiv des Weser-Kuriers nach den fehlenden Streifen und ergänzt die Episoden. Mit Anfang 30 fängt er an, auch Bücher und Bilderbücher aus dem Mumin-Universum zu sammeln. Als er das Bilderbuch „Hur gick det sen? Boken av Mymlan, Mumintrollet och lilla My“ findet, das es zu diesem Zeitpunkt noch nicht in deutscher Übersetzung gibt, bringt er sich Schwedisch im Selbststudium bei. Wenig später macht er seiner Großmutter mit seinen neuen Sprachkenntnissen ein besonderes Geschenk. Zu ihrem 88. Geburtstag überrascht er sie mit der Übersetzung des Mumin-Prototyps von 1947 aus der Wochenzeitung „Ny Tid“ – der Comic, der nun erschienen ist. „Ein lieber Mensch aus Skandinavien hatte mir die Scans aus dem Archiv geschickt.“
20 Jahre lag die Übersetzung danach bei Christian Panse in der Schublade. Als er Barbara Müller, die Vorsitzende der Georg-von-der Vring-Gesellschaft in Brake, kennenlernt, entsteht die Idee, die Übersetzung als Buch herauszubringen. Denn die Georg-von-der-Vring-Gesellschaft hat es sich mit ihrem Projekt „Tove 22“ zur Aufgabe gemacht, die Arbeiten von Tove Jansson in Deutschland bekannter zu machen. Als Auftakt bot sich die Übersetzung dieses Buches besonders an. Denn viele Sammler warten darauf schon seit Jahren. Barbara Müller klärte die Rechte in Finnland, suchte nach einem Verlag. Letzteres war zunächst schwierig, weil die Verlage, die in Deutschland üblicherweise die Mumin-Comics auf Deutsch veröffentlichen, wenig Interesse an dem Mumin-Comic-Prototypen hatten. Statt der comictypischen Sprechblasen stehen die Texte hier unter den Bildern und statt der drei bis vier üblichen Bilder gibt es beim Prototypen sechs. Der Bremer Verlag jedoch erkennt die kleine Preziose: „Die sympathische Muminfamilie hat mit ihrem skurrilen und unkonventionellen Witz sofort unsere Herzen erobert. Tove Janssons Texte sprühen vor Fantasie und Lebensfreude. Die Zeichnungen zeigen so viele liebevolle Details, dass man nicht müde wird, sie wieder und wieder anzusehen“, sagt Lektorin Monika Thiele vom Verlag.
In dem Buch wurde der handschriftliche schwedische Originaltext stehengelassen und die deutsche Übersetzung darunter gesetzt. „Sonst hätte der Charme der Bilder stark gelitten“, sagt Christian Panse. „Und vielleicht bekommt ja jemand so Lust, auch noch Schwedisch zu lernen.“ Für den Titel wurde eine von Panses Lieblingsszenen ausgewählt. Hier spüren Mumin und das Snorkfräulein, dass sie ineinander verliebt sind und fallen sich glücklich in die Arme. „Das ist so bezaubernd. Das muss man allen zeigen.“ Für die jetzige Übersetzung hat der Musik- und Informatiklehrer das einstige Geschenk an seine Großmutter ganz neu überarbeitet. Denn Schwedisch versteht und spricht er mittlerweile noch besser als vor 20 Jahren. Bei der Übersetzung ging es ihm besonders darum, den Witz und die besonderen Stimmungen der Geschichte wiederzugeben – Stimmungen, die Christian Panse schon seit seiner Kindheit sehr gut kennt. Im Haus seiner Großmutter hatte der ÖG-Lehrer ja nicht nur die Comics der Mumins kennengelernt, sondern später auch die Bücher. „Es wusste ja jeder, dass meine Großmutter die Mumins liebte, so bekam sie aus der Familie auch Muminbücher geschenkt. Und die entdeckte ich dann später. Das Haus meiner Großmutter war die Muminzentrale.“
Ungefähr zur gleichen Zeit, als Christian Panse „Mumin und der Weltuntergang“ zum ersten Mal übersetzte, fing er auch seine Mumin-Sammelleidenschaft an. 2001 gründete er das Virtuelle Muminforschungszentrum, das unter Sammlern weltweit als eines der wichtigsten Archive zur Muminforschung gilt. Sämtliche Werke aus der Muminwelt stellt Christian Panse hier vor – wie beispielsweise eben auch das Bilderbuch „Hur gick det sen? Boken av Mymlan, Mumintrollet och lilla My“, dessen fehlende Übersetzung ihn dazu brachte, Schwedisch zu lernen. Erst 2003 erschien es in Deutschland unter dem Titel „Mumin, wie wird’s weiter gehen?“, 2017 dann in einer zweiten Übersetzung unter dem Titel „Mumin sucht die kleine Mü“. Auch das ist im Virtuellen Muminforschungszentrum nachzulesen.
Neben der Übersicht über alle Comics und Bücher zeigt Christian Panse in seinem virtuellen Zentrum, wie groß die Welt der Mumins noch ist. Es gibt Mumin-Theaterstücke, Mumin-Lieder und sogar eine Mumin-Oper. Seine eigenen muministischen Forschungsergebnisse sind ebenfalls auf seiner Website http://www.zepe.de/mumin/ veröffentlicht. So hat er beispielsweise ein ausführliches muministisches Lexikon geschrieben, das Mumintal nachgezeichnet und auf einer anderen Karte alle muministisch wichtigen Orte markiert. Fast alle Stücke aus dem Virtuellen Forschungszentrum sind auch im realen Besitz des Lehrers. Zu finden sind diese Schätze, von denen Panse schon gar nicht mehr weiß, wie viele es sind, in seinem Arbeitszimmer. Hier stehen sie in langen Regalreihen – gleich neben seinen Lehrbüchern zu Musik und Informatik.

Text: Claudia Kuzaj, Foto: Claudia Kuzaj