„HERKUNFT“ – WAS BEDEUTET DAS EIGENTLICH?
Kurs im Darstellenden Spiel des zwölften Jahrgangs am Ökumenisches Gymnasium widmet sich in seiner Abschlussarbeit einem schwierigen Thema.
Saša Stanišić’s Roman „Herkunft“ erhielt 2019 den Deutschen Buchpreis und stand wochenlang auf den Bestsellerlisten. Nimmt man es jetzt wieder zur Hand, nur dreieinhalb Jahre später, liest es sich mit komplett anderen Augen: vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine. Und das verleiht den Erinnerungen, die der Autor in „Herkunft“ beleuchtet, eine aktuelle Dringlichkeit.
In Bremen gehört das Buch von Saša Stanišić, unter dem Oberbegriff „Erzählte Identität“, zu einem der Schwerpunktthemen in den schriftlichen Deutsch-Abi-Prüfungen 2023. In den vergangenen Monaten hat auch einer der beiden Kurse im Darstellenden Spiel des zwölften Jahrgangs am ÖG Passagen dieses Romans als Abschlussarbeit selbst dramatisiert und Anfang Februar an zwei Abenden vor einem begeisterten Publikum auf die Bühne gebracht. Persönlich kennengelernt hatten die Schüler des ÖG den Autor Ende 2022 bei einem seiner Besuche in Bremen.
Saša Stanišić wird am 7. März 1978 in Višegrad (damals Jugoslawien, heute Bosnien) als Sohn eines Betriebswirts und einer Politikwissenschaftlerin geboren. Die Mutter stammt aus einer bosniakisch-muslimischen, der Vater aus einer serbisch-orthodoxen Familie. Saša fühlt sich als Jugoslawe, bis der multikulturelle Staat zerbricht. 1992 flieht die Familie nach Deutschland und lebt danach in einem migrantisch geprägten Viertel in Heidelberg. Später zieht Saša in die Altstadt Heidelbergs und danach als Student nach Hamburg, wo er auch heute noch lebt und arbeitet.
Wie fühlt es sich an, von einem auf den anderen Tag alles zurücklassen zu müssen, nur um in einem fremden Land anzukommen, dessen Sprache man nicht einmal spricht? Wie ist es, sich in diesem Land eine völlig neue Identität aufzubauen, umgeben von Menschen ähnlichen Schicksals, die unterschiedlicher jedoch gar nicht sein könnten?
In seiner fiktional ergänzten Autobiografie erzählt Stanišić die Geschichte eines Jungen, der mit seinen Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien ins deutsche Heidelberg geflohen ist. Die Geschichte eines jungen Mannes, der sich durch die langsam verschwindende Erinnerung seiner demenzerkrankten Großmutter erstmals mit seiner eigenen Herkunft und Familiengeschichte beschäftigt, wo ein Mensch seine Heimat findet und welche Rolle all dies in dem Mosaik seiner Identität spielt. Und die Geschichte eines Enkels, der sich letztendlich von seiner Großmutter verabschieden muss.
Der starke Text des Romans ist schwierig in eine Bühnenfassung zu bringen, da es kaum eine lineare Handlung gibt in dieser Mischung aus Autobiografie, Erzählungen, Recherchen und (scheinbar) verstreuten Erinnerungen. Aber die insgesamt 24 Szenen der Aufführung am ÖG bilden ein sehr gelungenes und hoch konzentriertes Stück, in dem die Darstellenden keine festen Rollen haben. Schließlich kann es alle treffen! Und jeder kann zum Flüchtling oder Vertriebenen werden! Nur das „Kostüm“ Jeansjacke macht deutlich, wer gerade den Saša verkörpert bzw. eine warme Stola die Großmutter Kristina. Alle anderen Akteure sind in monochromem Schwarz oder Anthrazit gekleidet. Die Handlung gibt sowohl eine Rückschau auf Geschehnisse in der jugoslawischen Heimat Saša Stanišićs wieder, die Jugend in Heidelberg als auch die Zeit der Aufarbeitung bis hin zum Abschied von Großmutter Kristina. Mithilfe von Projektionen werden die einzelnen Szenen unterstützt und zentrale Orte der Handlung, wie z.B. das Volksparkstadion in Hamburg, eine Aral-Tankstelle in Heidelberg oder eingeblendete Jahreszahlen, zum besseren Verständnis für die unterschiedlichen Zeitebenen eingeblendet. Auch verlagert sich das Bühnengeschehen in den Zuschauerraum und bezieht somit das Publikum mit ein. Über eine Stunde zeigt das Stück ein schillerndes Mosaik mit Momenten aus Sašas Leben. Es ist eine turbulent berührende Geschichte voller Zeitsprünge und Ortswechsel, angefüttert mit Sprachgewandtheit, Wehmut und ganz viel feinem Witz – sicher ganz im Sinne des Autors.
Text und Fotos: MM