Kaffeesatz schreiben
Hammelsprünge im November
Ja, jeder kann Kaffeesatz lesen. Sie haben gerade eben Kaffeesatz gelesen, also das Wort, dreimal schon, wenn Sie auch die Überschrift wahrgenommen haben.
Aber Lesen bedeutet mehr, als die aus Buchstaben zusammengesetzten Wörter zu begreifen. Lesen meint in seiner zweiten Bedeutung ernten. Man könnte das Erntedankfest also auch als Lesedankfest bezeichnen.
Man könnte das Erntedankfest auch Marsvulkanlanglauf nennen, aber das wäre komplett falsch und würde auch nur zu Verwirrung führen.
Zurück zum Lesen, zum Kaffeesatzlesen. Den Älteren muss ich nicht erklären, was das ist, und den Jüngeren sage ich: Einfach mal googeln.
Okay, ich erkläre es kurz: Wenn man Kaffee trinkt und unten in der Tasse bleibt ein feuchter Pulverrest, dann kann man die Untertasse verkehrt herum auf die Tasse legen und beides mit Schwung um 180 Grad drehen, sodass der braune Kaffeerest, wenn man die Tasse von der Untertasse entfernt, auf der Untertasse zu sehen ist.
Und daraus kann man dann die Zukunft herauslesen. Das klingt nach Hokus plus Pokus, nach Abra plus Kadabra, nebst der Neffen Sim, Sala und Bim. Manche rücken Kaffeesatzleserei auch in die Nähe von Verschwörungstheorien – das jedenfalls besagt eine spezielle Verschwörungstheorie.
Ich habe mich seit März, oder sagen wir ruhig seit der aktuellen Lage, intensiver mit dem Thema Kaffeesatzlesen beschäftigt. Ich wollte es lernen. Das war ein langer, nicht steiniger, aber ziemlich pulvriger Weg.
Beim ersten spontanen Versuch in einem Restaurant hier in Oberneuland wollte es nicht klappen. Ich kam mit dem Pärchen am Nebentisch ins Gespräch, schwärmte vom Kaffeesatzlesen, nahm mir Tasse und Untertasse der Dame, drehte sie (also nicht die Frau, sondern Tasse und Untertasse), und was soll ich sagen: Der Schaumrest des Cappuccinos wollte den Weg zur Untertasse nicht finden.
Ein zweiter Versuch an einem anderen Tag endete damit, dass ich mit dem Freund, dem ich die Zukunft voraussagen wollte, an der großen italienischen Kaffeemaschine stand, um nach den Pulverresten zu schauen. Wir fanden sie, konnten aber nicht feststellen, welcher der rundgepressten Kaffebraunis der richtige war.
Tage später sah ich am Nebentisch einen älteren Mann, der einen Mokka schlürfte. Noch bevor er die kleine Tasse abgesetzt hatte, fragte ich ihn, ob ich ihm die Zukunft vorhersagen darf. Er begriff, kannte das Kaffeesatzlesen, und SCHWUPPS machte ich das Tassen-Untertassen-Ritual. Leider gelang es mir lediglich, die sehr nahe Zukunft vorauszusehen: „Sie werden eine Reinigungsfirma aufsuchen, um dort ein kariertes Hemd professionell säubern zu lassen, damit es frei von Mokkaflecken ist. Und Sie müssen es nicht selbst bezahlen.“ Ich entschuldigte mich für die Schweinerei und verabschiedete mich.
Es dauerte Wochen, bis ich eine Liste von Cafés, Kantinen, Restaurants und Möbelhäusern zusammengestellt hatte, in denen eine Form von Kaffee serviert wurde, der einen Kaffeesatz hinterließ. Es war eine kleine Liste. Ich bin mir gar nicht sicher, ob man das – wenn auf einem Zettel nur ein einziger Name steht – überhaupt Liste nennen kann.
In dieser Gaststätte machte ich es mir bequem. Täglich. Und es sah ganz danach aus, dass da ein neues Hobby entsteht. Nach zwei Wochen sprach ich einen Kaffee trinkenden Mann mittleren Alters an. Und er erlaubte mir, aus seinem Kaffeesatz zu lesen. Erst jetzt fiel mir ein, dass es besser gewesen wäre, wenn ich mich intensiver mit diesem Thema beschäftigt hätte. Ich kannte Bleigießen. Im Interpretieren der seltsamen Metallfiguren war ich sehr gut. Ich sehe auch Gesichter in Fliesenmustern, Elefantenaugen in Holzmaserungen, Schlangen an Supermarktkassen.
Aber was, um Himmels Willen, gilt es bei Kaffeeresten in Untertassen zu erkennen?
Der Mann guckte mich mit großen Augen an. Ich guckte mit kleinen Augen zurück.
Der Mann runzelte die Stirn. Ich runzelte zurück: „Und nun, mein Herr, werde ich Ihnen die Zukunft vorhersagen.“ Darauf entgegnete er: „Was sonst. Die Vergangenheit kann man ja schlecht voraussagen.“ „Sie haben recht.“ Irgendwie sah der Kaffeesatz aus wie die Umrisse von Turkmenistan. Deshalb sagte ich: „Sie werden eine Reise machen.“ Der Mann tat erstaunt. Jetzt plötzlich erinnerte mich der braune Kaffeerest an die Silhouette einer hübschen Dame, und ich orakelte wenig konkret: „Und irgendwas ist mit einer Frau.“
Lächelnd haute der Mann mit der Hand auf den Tisch. Dabei erwischte er die Untertasse. Dadurch hatte sich der Kaffeesatz verändert.
Ich erkannte Buchstaben. Ein T. Noch ein T. Ein L. Ein O. Und noch ein O. Sofort sprudelte es aus mir heraus: „Sie werden TTLOO spielen! Äh, nee. Sie werden OTTOL spielen! Quatsch. Jetzt hab ich’s. Sie werden LOTTO spielen!“
Und das hat der Mann dann wirklich getan. Eine Woche später eröffnete er mir, dass er gewonnen hat.
Obwohl wir uns kaum kannten, umarmten wir uns, um auf diese Weise lachend durchs Restaurant zu hüpfen.
Seither mache ich das mit dem Kaffeesatzlesen regelmäßig. Ich möchte sagen: Dieses Erlebnis hat mein Leben verändert.
Mittlerweile kann ich Kaffeesatz lesen, Kaffeesatz schreiben und sogar Kaffeesatz rechnen.
Das Leben des Mannes, dem ich die Zukunft vorausgesagt hatte, hatte sich wenig verändert. Vielleicht auch, weil es nur drei Richtige waren.
Von Winfried Hammelmann, Oberneulander, Redakteur und Autor