Meine Lieben
HammelSprünge im September
Meine erste Liebe galt einer, die schnell rot wurde. Die war echt süß.
Meine zweite Liebe war das komplette Gegenteil. Rot wurde sie nie, aber sauer.
Meine dritte Liebe hatte Pfirsichhaut, allerdings mit vielen kleinen Härchen.
Und wo vorne und wo hinten war, das erkannte man sofort, denn ihre Hinterseite ähnelte einem Popo, vermutlich, weil es einer war.
Spätestens jetzt sollte ich erwähnen, dass ich hier nicht von Frauen spreche, sondern von Früchten.
Im Auto sitzend habe mir überlegt, meine Biografie zu schreiben, also eine Autobiografie. Das kann einem keiner abnehmen.
Aber wie fängt man an? Auf jeden Fall anders.
Ich wollte nicht sachlich alles auflisten, von der Geburt über die Einschulung, die Ausbildung, die Einbildung, die Weiterbildung, die Bildung, die Arbeit, das Studium, den Job bis hin zu diesen Zeilen.
Ich wollte auch nicht – um meine Lebensgeschichte interessanter zu machen, in zwei Zeiten springen. Ich gebe zu: Es hätte zu mir gepasst, wenn ich in ganz vielen Zeiten hin- und hergesprungen gewesen worden werden wäre.
Okay, das war albern.
Ich bin auch kein Freund von Biografien, die ausschließlich den Anfang erzählen, sich also nur mit der Zeit beschäftigen, bevor die Personen berühmt geworden sind, auch weil ich nicht berühmt bin.
Dann kam mir die Idee, mein Leben nicht in Jahrzehnten, Jahrsiebten oder Jahrzwölften zu erzählen, sondern im Fru-flei-for, sprich im Fruchtfleischformat.
Wenn man über vierzig Jahre auf der Welt ist … na gut, wenn man über fünfzig Jahre auf der … okay okay, wenn man die Sechzig überschritten hat, dann kommen da schon einige Lebensgeschichten zusammen. Ich versuchte, das Wesentliche zu notieren, das Essenzielle, das Bedeutende, das Ausschlaggebende. Das gelang mir von Anfang an nicht, was ich daran merkte, dass die Begriffe „wesentlich“, „essenziell“, „bedeutend“ und „ausschlaggebend“ sehr ähnlich in ihrer Bedeutung sind.
Apropos „ausschlaggebend“. Meine liebe Schwiegermutter bekam von Erdbeeren immer Ausschlag. Und damit bin ich bei meiner ersten Fruchtliebe. Da war ich noch ganz klein … und 19 Jahre alt. Nein, Scherz. Ich war noch nicht in der Schule … und 12 Jahre alt. Scherz. Ich war im Vorschulalter und liebte Erdbeeren. Vor allem Erdbeereis.
Damals gab es ja leckere, cremige Speiseeisblöcke, genannt Fürst-Pückler-Eis. Das waren drei Teile Eis in einem Stück, je ein Drittel Erdbeere, Vanille und Schokolade.
Ich war der Jüngste von drei Söhnen und durfte das Eis mit einem stumpfen Messer dritteln. Erst zeigte ich meinen Brüdern die Schokoladenseite, dann machte ich zwei saubere Schnitte und gab dem Ältesten die Schokoladenseite. Der Mittlere bekam das Vanilledrittel und übrig blieb ein zartrosafarbenes Erdbeerstück. Mmmmh. Lecker.
Aber es kam – wie es kommen musste. Ich wurde ein pickeliger 12-Jähriger. In dem Alter hörte ich von einem Gedicht: „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund.“
Zu meinem ‚Ekel‘ gesellte sich ein ‚Haft‘, ich fand die Vorstellung eines Mundes aus Erdbeeren ekelhaft. Ich wurde sauer und entdeckte die Zitrone für mich. Ich glaube, man kann die Menschheit, sagen wir die Menschheit hierzulande, einteilen in die Gruppe derer, die als Kind Zitroneneis liebten, und in die Gruppe derer, die es nicht leckten. Diese Fruchtphase zwei dauerte mehrere Jahre.
Sie endete, als mir meine Tante mit 18 Jahren (also sie war älter, ich war es, der volljährig wurde) eine Flasche Marillenlikör schenkte. Ich sagte beim Zitronenabschied leise Servus. Ja, ich hatte, wie Pablo Picasso, eine „Blaue Phase“, er 1901 bis 1904, ich 1977 bis 1980. Während die Farbe Blau in der Kunst des Mittelalters für Himmel, Engel und Gott stand, stand sie bei mir für Samstagabend, Marillenlikör und Lallen.
Dieser fruchtige Likör brachte mich zu einer philosophischen Frage, die ich mir damals nicht beantworten konnte: „Wie kann man von einem Likör, der orange ist, blau werden?“
Es waren zwar nur Marillenlikörsamstage, aber die hatten es in sich. Da ich nicht immer dieses süße liquide Marillenzeug zur Verfügung hatte, griff ich nicht selten zu einem flüssigen Genussmittel, das ich später Weinstiegsdroge nannte. Auch schmackhaft. Griechischer Süßwein. Mal Mavrodaphne, mal Samos. Und wenn ich zur Abwechslung einen Rosé trinken wollte, dann mischte ich die beiden Weine.
Dann kam der Schock. Ein Klassenkamerad erklärte mir, dass eine Marille nichts anderes ist als eine Aprikose. Ich war entsetzt. Ich hatte im Supermarkt (der damals in Oberneuland und der restlichen Welt noch Konsum hieß, betont auf der ersten Silbe: KONsum) eine Aprikose gesehen und sie angefasst. Meine Gedanken und Gefühle nach diesem Erlebnis lassen sich wie folgt zusammenfassen: „Oh Gott, igitt igitt.“
Ich hatte mit der Marille sofort Schluss gemacht, der Frucht, die am ganzen Körper behaart war.
Schnell hatte ich eine Andere. Der Wein brachte mich zur Traube. Ich aß gerne Trauben, trank gerne Traubensaft, lutschte gerne Traubenzucker. Nie habe ich den Spruch verstanden: „Lieber den Spatz in der Hand als die Traube auf dem Dach.“
Ich probierte alle möglichen Weine aus: Silvaner, Ruländer, Riesling, dann Rotweine aus Italien, Spanien und Deutschland.
Aber es war alles zu viel. Ich war abhängig. Und Mitte der 80er entschloss ich mich zu einem Entzug. Seitdem bin ich clean. Also gut, ich WAR clean. Sehr lange. Über 30 Jahre habe ich nicht eine Frucht angerührt.
Und dann entdeckte ich etwas Neues aus der Welt des Obstes. Seitdem bin ich wieder voll drauf:
Ich sage nur: Johannisbeere, Ananas, Himbeere, Rufzeichen, kurz JAH!
Von Winfried Hammelmann, Oberneulander, Redakteur und Autor