Weggefährten in Krisenzeiten
Stiftung Bündnis Mensch & Tier denkt und realisiert Tierschutz nachhaltig.
Warum Tiere unserem Alltag Struktur geben
Der plötzliche Wandel und Bruch im gewohnten Alltag rauben das Gefühl von Stabilität und Struktur. Menschen, die sich entweder einen Teil ihrer vorherigen Alltagsstruktur bewahren oder eine neue erschaffen, scheinen der Situation „gewappneter“ gegenüber zu treten. Wenn die bekannte, wohltuende Angewohnheit zusätzlich von einer Beziehung zwischen Lebewesen begleitet ist, fühlen sich Menschen oftmals weniger einsam. Tiere spielen hierbei eine starke Rolle. Tierhalter sagen, dass sie innerhalb ihres Alltags davon profitieren, mit Tieren zusammenzuleben. Die dadurch gewonnene Tagesstruktur hilft innere Hürden zu bewältigen, mobil zu bleiben und den Kontakt zur Natur zu bewahren. Zu diesen Ergebnissen führt eine aktuelle Studie, die die Auswirkungen der Einschränkungen in dem Zeitraum März bis Mai 2020 auf die Mensch-Tier-Beziehung untersuchte.
Durchgeführt wurde die Studie von der Oberneulanderin Dr. Carola Otterstedt, Gründerin und ehrenamtlicher Vorstand der Stiftung Bündnis Mensch & Tier. 2008 rief Dr. Carola Otterstedt die Stiftung ins Leben. Als Kulturwissenschaftlerin und Verhaltensforscherin beschäftigt sie sich seit vielen Jahren intensiv mit dem Thema Mensch-Tier-Beziehung. In Deutschland fördert sie zudem die Qualifizierung der Tiergestützten Intervention. Dazu gehören u. a. Tiergestützte Therapien für Kinder und Erwachsene sowie Tiergestützte Förderung für Demenzbetroffene.
Die positive Wirkung von Tieren sei nunmehr auch wissenschaftlich belegt – so der BTI, Bundesverband Tiergestützte Intervention e.V. Der Verband schlägt Brücken zwischen Menschen und Institutionen, die sich zum einen bestimmten Qualitätsanforderungen verpflichten und zum anderen tiergestützte Intervention nach qualifizierter Weiterbildung anbieten. Der Begriff „Tiergestützte Intervention“ ist als Oberbegriff für alle Angebote, in denen geeignete Tiere eingesetzt werden – mit dem Ziel, physische, soziale, emotionale sowie kognitive Fähigkeiten zu fördern und eine sich steigernde Lebensfreude zu erreichen – zu verstehen. Hierbei können die Interventionen Raum für neue Erlebens-, Handlungs- und Verhaltensmöglichkeiten schaffen.
Auch das Engagement der Stiftung Bündnis Mensch & Tier geht weit über den klassischen Tierschutz hinaus: „Wenn wir Tiere in der Begleitung von Menschen einsetzen wollen, dann ist es sehr wichtig, dass wir nicht nur die Grundbedürfnisse von Tieren verstehen, sondern auch unser Verhältnis zu Heim- und Nutztieren reflektieren. Die Stiftung wurde gegründet, um eben die Rolle des Tieres in unserer Gesellschaft, sowohl auf wissenschaftlicher Ebene als auch in Praxisangeboten der Tierbegegnung, erlebbar und reflektierbar zu machen. Es ist mir ein großes Anliegen, gerade die Beziehung zwischen Mensch, Tier und Natur zu ermöglichen und zu fördern“, erklärt Otterstedt.
Bei Bündnis Mensch & Tier geht es um einen ganzheitlichen Weg im Tierschutz und darum, noch etwas weiter über den Tellerrand hinauszuschauen: Präventiver Tierschutz, als Pendant zum klassischen Tierschutz, soll uns Menschen nachhaltig dabei helfen, artgemäße Tierhaltung sowie einen tiergerechten Einsatz von Tieren zu denken und zu realisieren. Dadurch können Notlagen unserer Tiere kurz- und langfristig verhindert werden. Die Stiftung arbeitet operativ, realisiert eigene Projekte und in Kooperation mit Partnern.
Über die Website werden wissenschaftliche Erkenntnisse kommuniziert und Netzwerke zu Praxispartnern (z.B. Begegnungshöfe) angeboten. Der Freundeskreis der Stiftung und ehrenamtliche Mitarbeiter ermöglichen die Stiftungsarbeit.
Bündnis Mensch & Tier profitiert von Fachleuten aus der Praxis und aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen. Otterstedt ist als Leiterin für die Koordination des trinationalen und interdisziplinären Teams verantwortlich: „Wir realisieren Projekte, erarbeiten Studien, bieten Beratung an und schaffen Netzwerke. Wir möchten Hilfe zur Selbsthilfe geben, verstehen uns vor allem auch als Dolmetscher der Bedürfnisse von Mensch und Tier, zeigen Wege auf, wie man diese auch in der täglichen Praxis gut umsetzen kann“, erläutert die promovierte Kulturwissenschaftlerin.
Otterstedt begutachtet selbst Höfe sowie Tierhaltung und hospitiert bei tiergestützten Einsätzen. Eine ihrer Hauptaufgaben sieht sie in Oberneuland: „Ich kommuniziere in Gesprächen und in Publikationen die wissenschaftsbasierten Grundlagen der Mensch-Tier-Beziehung und bringe Fachleute zusammen, die sich für dieses Thema engagieren wollen.“ Eine ganz besondere Herzensangelegenheit ist für Otterstedt die Beratung für Höfe, die ein Interesse dafür zeigen, Tierbegegnungen anzubieten: „Hier können wir neue und spannende Wege zwischen Mensch und Tier aufzeigen!“
Eigene Tiere hält die Stiftung nicht, sie bietet allerdings in ihrem Netzwerk Begegnungshöfe Tierbegegnungen an. Das Netzwerk wurde durch die Stiftung 2008 ins Leben gerufen. Es soll geeignete Räume bieten, wo Mensch und Tier sich auf mensch- sowie tiergerechte Weise begegnen können. Die qualifizierten Höfe von Bündnis Mensch & Tier sind Vorbilder für eine artgemäße Tierhaltung und einen tiergerechten Einsatz von Heim- sowie Nutztieren.
Im Rahmen des Netzwerks bietet die Stiftung eine jährliche Weiterbildung für die Begegnungshöfe an. Seit 2020 kann die Stiftung außerdem stolz auf ein zukunftsweisendes Projekt blicken: „Wir vergeben an jene Tierhalter das Arche-Siegel, die eine alte bzw. gefährdete Haustierrasse halten und gleichzeitig Mensch-Tier-Begegnungen anbieten. Zu den gefährdeten Haustierrassen gehört z.B. der altdeutsche Hütehund. Es handelt sich um Hunderassen, die durch die Zucht von Gesellschaftshunden inzwischen vom Aussterben bedroht sind. Es gibt aber auch Hühner- oder Schafrassen, die das betrifft. Das Alpine Steinschaf gibt es nur noch sehr selten, wird aber inzwischen wieder auf manchen Höfen gehalten und das sehr gern, da die Tiere hinsichtlich ihres Charakters gut zu halten und sehr umgänglich sind.“ Die Verhaltensforscherin ergänzt, dass Höfe mit dem Arche-Siegel eine wichtige Aufgabe übernehmen, da sie auch jene Tierindividuen übernehmen, die für die Zucht nicht geeignet sind. „Wichtig ist uns, dass die Tiere artgemäß gehalten werden und eine tiergerechte Beziehungsarbeit angeboten wird. Über die Beziehung mit dem Tier können wir so besonders gut die Bedeutung des Artenschutzes kommunizieren.“
Die Begegnungshöfe sind in ihrer Arbeit autark. Bündnis Mensch & Tier greift weder in das Konzept noch in die Arbeitsweise der Höfe ein. Welches Programm die Höfe anbieten, bleibt ihnen überlassen und richtet sich nach den Bedürfnissen vor Ort. „Es gibt z.B. in Worpswede einen Begegnungshof, der ambulante Tiergestützte Förderung für Demenzbetroffene anbietet. Die Alpakas auf dem Bremer Hof gehen u.a. auf Spaziergängen mit“, erklärt Otterstedt.
Bündnis Mensch & Tier möchte Bewusstsein dafür schaffen, dass wir alle eine gemeinsame Verantwortung für eine gemeinsame Zukunft tragen. Zur Stiftungsarbeit gehört deshalb: Fachliche Grundlagen schaffen, Informationen kommunizieren und praktische Hilfe aufzeigen, damit Menschen die Bedürfnisse der Tiere besser verstehen lernen, und Mensch und Tier gut miteinander leben und voneinander profitieren können. Die Stiftung will bewusst präventiven und nachhaltigen Tierschutz ermöglichen, damit weder Mensch noch Tier Leid erfahren. „Wir haben uns beispielsweise die Mühe gemacht, die tatsächlichen Kosten der Tierhaltung der einzelnen Tierarten zu ermitteln. Diese Kostenpläne sind, wie viele andere hilfreiche Informationen zur Tierhaltung, auf unserer Internetseite kostenfrei herunterzuladen. Mit dem Wissen um die zeitlichen und finanziellen Kosten, so hoffen wir, werden zukünftige Tierhalter eine Tierhaltung besser planen und abschätzen können. Wir wollen den Tierbesitzern Instrumente zur Entscheidung in die Hand geben, um auf diese Weise verantwortungsvoll gegenüber dem Tier handeln zu können.“
Die Stiftung engagiert sich für die Mensch-Tier-Beziehung auf Grundlage des Schutzes für den gemeinsamen Lebensraum von Mensch und Tier: die Natur. Dies umfasst nicht nur Arten- und Naturschutz – Otterstedt diskutiert in ihrer Studie auch die große Bedeutung der Gesundheit von Mensch und Tier sowie das One-Health-Konzept der WHO. Die Gründerin erklärt: „Unsere Arbeit findet immer in Beziehung mit der Natur statt. Wir sehen die Mensch-Tier-Beziehung nicht als etwas Elitäres, sondern als wunderbare Brücke zur Mensch-Mensch-Beziehung. Wir reflektieren immer wieder: Was bedeutet das alles für den Naturschutz? Und sehen wir die Tiere wirklich auf Augenhöhe und eben nicht nur als Nutz- oder Schoßtier.“
Jeder von uns könne viel bewirken, wenn wir beispielsweise schon darauf achteten, dass unsere eigenen Heimtiere gesund sind, betont Otterstedt: „Das bedeutet auch, dass wir keine Tiere aus sog. Qualzuchten von Tierhändlern kaufen.“ Generell blickt die Verhaltensforscherin der Entwicklung positiv entgegen: „Es hat sich schon viel gewandelt. In den 70er-Jahren waren Mischlinge noch verpönt, heute ist es schon fast „chic“ einen Mischling zu haben. Die Haltung von Hühnern erfährt gerade eine Renaissance. Heimtiere sind heute vor allem Teil der Familie, ihre Bedürfnisse erfahren heute deutlich mehr Achtung und Menschen versuchen, die Sprache der Tiere zu verstehen.“
Die Stiftung von Carola Otterstedt hat es sich zum Ziel gemacht, die Wertschätzung und das Wohlergehen der Tiere in unserer Gesellschaft zu erhöhen. Dafür bringt sich Bündnis Mensch & Tier aktiv in Gremien der Tierärzteschaft, der Landwirtschaft, der Universitäten und Hochschulen ein – darüber hinaus auch in der Weiterbildung von sozialen sowie pädagogischen Berufen in der Tiergestützten Intervention. In einer Grundlagenpublikation zur Rolle der Tiere in unserer Gesellschaft konnte die Stiftung kommunale und bundesweite Regierungen erreichen, über das Miteinander zwischen Mensch und Tier, z.B. die Relevanz der Tiere für die Wirtschaft, für das Gesundheitswesen oder den Tourismus, zu reflektieren. Die aktuelle Studie schenkt nicht nur Erkenntnisse für Krisenzeiten, sondern auch Ansätze dafür, wie wir sozialer Einsamkeit ohne Krise begegnen können. Otterstedt betont, dass es nie „nur“ darum gehe, ein Tier zu retten: „Wir wollen mehr: dass Mensch und Tier sich respektvoll begegnen und voneinander profitieren können. Schaffen wir es, dies erlebbar zu machen, wird sich unser Tierbild verändern. Wir werden das Tier nicht mehr als Sache bezeichnen, vielmehr – wie Marin Buber es bezeichnen würde – das DU im tierlichen Gegenüber erkennen.“
Die ehrenamtliche Arbeit der Stiftung wird allein über Spenden finanziert. Wer unterstützten möchte und Interesse hat, kann dies über Einzelspenden oder als Mitglied des Freundeskreises tun. Auch die konkrete, finanzielle Unterstützung für ein einzelnes Projekt oder die freie Nutzung von Räumlichkeiten (für Lesungen, Vorträge, Exkursionen) sind große Hilfen. „Ich freue mich, wenn Oberneulander Freude an einem Projekt, das wir gemeinsam entwickeln können, von und für Oberneuland haben“, sagt Otterstedt.
Eine große Essenz der Studie von Carola Otterstedt ist: „Die Tiere machen meinen Alltag normal.“ Normal muss nicht langweilig sein – in jetzigen Zeiten bietet uns das Normale Stabilität und Struktur. Genau das, was vielen Menschen gerade fehlt.
Text: Susanne Wokurka, Foto: Stiftung Bündnis Mensch & Tier