Die geheimnisvolle Glocke

Nach 82 Jahren darf sie endlich wieder läuten

Wir schreiben das Jahr 1942. Auf dem Oberneulander Friedhof ist es dunkel und nebelig, mitten in der Nacht. Verstohlen schauen sich die beiden Männer um.
Etwas unheimlich ist ihnen schon, als sie die kleine Glocke auf dem Grundstück des heutigen Küstergartens vergraben. Sie wissen bereits, dass zwei Glocken der Oberneulander Kirche zu Kriegszwecken abgeholt werden sollen. Deshalb wollen sie unbedingt verhindern, dass die 1939 gegossene Glocke abgeholt und eingeschmolzen wird. So könnte es gewesen sein, genau weiß das jedoch niemand…

Im Jahr 1997, also 55 Jahre später, bezieht Andreas Wokurka als neuer Küster mit seiner Familie das Küsterhaus. Bei Gartenarbeiten entdeckt er die 30 kg schwere Glocke mit einem Durchmesser von 350 mm und gräbt sie aus. Im Glockenturm der Friedhofskapelle findet sie einen Platz und wird provisorisch aufgehängt. Durch ihre Größe war anzunehmen, dass sie dorthin gehörte. Doch bleibt sie weiterhin viele Jahre stumm und das wollten drei Gemeindemitglieder ändern. Namentlich möchten sie nicht genannt werden, jedoch haben sie keine Kosten und Mühen gescheut, um ihr Projekt zu verwirklichen.
Kostenvoranschläge mussten eingeholt werden und so erhielt die Glocken- und Kunstgießerei Rincker im Sauerland Anfang 2021 den Auftrag, die kleine Schlagglocke mit der elektronischen Steuerung, einem Hammer und massivem Holzgestell zu versehen. Mit dem Ziel, die Glocke im Glockenturm der Friedhofskapelle so aufzuhängen, dass sie nach ca. 82 Jahren auf ihrem gestimmten Ton D erklingen darf. Während die Glocke im Sauerland entsprechend ausgestattet wurde, entwickelte Klaus Behrens-Talla einen großen Forschungsdrang.
Selbst Mitglied des Kirchenvorstandes der evangelischen Kirchengemeinde Oberneuland informierte er diesen wie folgt: „Wie angekündigt war ich heute im Lesesaal der Landeskirchlichen Bibliothek, um Näheres über unsere Glocke zu erfahren. Das umfassende, aber laut Vorspann leider nicht vollständige Werkverzeichnis weist diese Glocke nicht aus.“ In einem solchen Werkverzeichnis werden der Ort und Auftraggeber, die Anzahl der Glocken, deren Durchmesser, Gewicht, Ton und Verbleib ausgewiesen. Doch sind längst nicht alle diese Angaben für jede nachgewiesene Glocke auffindbar, erfahren wir von Behrens-Talla.
Den Gedanken, sich durch alte Vorstandssitzungsprotokolle der damaligen Zeit hindurch zu arbeiten, hat Behrens-Talla schnell wieder verworfen. „Denn wer eine Glocke vergräbt, um sie zu verbergen, wird dies nicht in einem Vorstandssitzungsprotokoll ausdrücklich bekannt machen.“ Und so bleibt er hartnäckig an der Glockenrecherche dran. Nutzt die Gelegenheit, alle im Werkverzeichnis von 1900 bis 1940 ausgewiesenen Glocken zu überprüfen. „Die Glockengießerei Otto, einst eine der bedeutendsten Gießereien in Deutschland, hat sehr viele Glocken gegossen und diese in ganz Deutschland, europaweit sowie nach Australien und Afrika ausgeliefert. Es finden sich auch viele Glockenaufträge für Kirchengemeinden in Bremen.“ Eine Bestätigung, dass die Glocke für die 1905 erbaute Kapelle gedacht war, findet sich ebenfalls nicht. Auch wenn diese einen kleinen Glockenturm besitzt, sprechen statische Gründe dagegen. Also doch eine Durchsicht der damaligen Kirchenvorstandsprotokolle, ein Haufen Archivarbeit für Behrens-Talla, wie er selbst sagt. Dabei ist ihm ein Briefwechsel zwischen Ruhrgebiet und Weser mit dem Religionshistoriker Dr. Gerhard Reinhold sehr hilfreich, denn Kirchenglocken sind dessen Leidenschaft, und besonders die der Firma Otto aus Bremen haben es ihm angetan. Das Werkverzeichnis wurde von ihm angelegt und auch Reinhold konnte keinerlei Hinweise auf diese Glocke im Verzeichnis finden. Hocherfreut ergänzte er dieses um die kleine Glocke. Über die beiden ihm zugesandten Fotos freute er sich sehr und schrieb diese Anmerkung: „Interessant ist, dass die kleine Glocke nicht die sechs radial oder sternförmig angeordneten Glockenkronenhenkel trägt, sondern eine Art Teller- oder Glockenkrone. Dies könnte meines Erachtens darauf hindeuten, dass die Glocke nicht schwingend geläutet, sondern als Uhrglocke starr hängen sollte.“ Ob sie wohl je zu hören war?
Im Buch „Gestern noch ein Dorf“ von Pastor Hartwig Ammann steht: „Es ist eigentlich schade, dass wir unsere Glocken so selten zu Gesicht bekommen. Wir hören sie wohl, haben aber kaum Gelegenheit, sie zu betrachten.“ Genau andersherum verhält es sich bei der kleinen Glocke der wunderschönen Friedhofskapelle. Lange Zeit war sie zu sehen, doch nie zu hören. Das Läuten einer Glocke, wenn wir in der Kapelle von einem lieben Menschen Abschied nehmen, übernahm bisher eine der drei Glocken im Glockenstuhl des großen Kirchturms der Oberneulander Kirche.
Die Glockenweihe mit Segnung der Glocke durch Pastor Thomas Ziaja fand am 29. April im kleinen Kreis statt. „Die großen Glocken bekommen eine kleine Schwester. Längst hätte sie erklingen sollen, das war ihr nicht vergönnt, denn lange lag sie vergraben im Erdreich. Die Glocke soll Menschen einladen, zu loben, sich segnen und begleiten zu lassen. Sie wird von der Liebe Gottes bei Trauerfeiern und beim Feiern des Abendmahls in der Kapelle erzählen. Viele Gelegenheiten wird es geben, wo die Glocke uns begleitet und die Liebe in die Welt trägt“, sagte Pastor Thomas Ziaja in seiner kleinen Predigt. Das wünschte sich auch Wolfgang Frese, der schon damals dachte: „Wäre schön, wenn man sie zum Klingen bringen würde. Nun haben wir es geschafft, darüber freue ich mich sehr.“ Während bei einer Trauerfeier zum Auszug das volle Geläut der drei Kirchenglocken zu hören ist, bleiben die Glocken auf dem Weg zur Urnenbeisetzung still. „Ich kann mir gut vorstellen, dass dieser Weg durch das Einzelschlaggeläut der kleinen Glocke nicht mehr so trostlos erscheint“, sagt Frese. Für einen traditionellen, festlichen Blumenschmuck sorgte Angela Hüneke; mit ihrem geschmackvollen Arrangement traf sie genau die Zeit, aus der die Glocke stammt.
Die Bläser des Bläserchores schwangen sich bis zum hohen G beim „Gloria sei dir gesungen.“ Auch die folgenden festlichen Choräle „Lobet den Herren“ und „Großer Gott wir loben dich“, konnten passender nicht sein. Anschließend übernahm der Glockenmonteur Hans-Joachim Peter von der Glocken- und Kunstgießerei Rincker die kleine Schlagglocke zum Einbau in den Glockenturm der Friedhofskapelle. Dabei wurde er tatkräftig von der Dachdeckerfirma Howald unterstützt, welche den Steiger kostenfrei zur Verfügung stellte. Ohne die Sponsoren und ehrenamtlichen Unterstützer hätte es dieses Projekt so nicht gegeben. Die Kirchengemeinde Oberneuland ist sehr dankbar für dieses großartige Engagement. Sicherlich hat sich der eine oder andere Friedhofsbesucher am Nachmittag des 29. April über neuartige Glockenklänge gewundert. Denn zur fortgeschrittenen Zeit ließ Peter die Glocke erstmals erklingen. „Die Kirchengemeinde der Evangelischen Kirche Oberneuland bleibt voller Hoffnung, dass die beim Anschlagen der Glocke erzeugten Schwingungen statisch vom Glockenturm der Kapelle verkraftet werden“, sagt Behrens-Talla.
Einige Fragen sind offen: Wer hat die Glocke dort vergraben, wann und warum? Wie ist sie in die Kirchengemeinde Bremen-Oberneuland gekommen und wer hat sie in Auftrag gegeben? Vielleicht erinnert sich ein Leser an die kleine Glocke und kann etwas Licht ins Dunkel bringen?

Text und Foto: Susanne Wokurka