Oberneulander „Platanen-Veteran“ trotzt allen Stürmen

Lebensraum für viele Tiere

Vollkommen unbeschadet – dank guter und fachmännischer Pflege – und im Boden fest verwurzelt, trotzt eine Platane im Gustav-Brandes-Weg seit über 150 Jahren dem norddeutschen Wetter.

Die Platanen gelten als beliebte Straßenbäume. Sie säumen oft Alleen und auf vielen öffentlichen Plätzen spenden die Bäume mit ihren großen Kronen im Sommer Schatten. Der robuste Baum verträgt Trockenheit und Hitze und ist äußerst schnittverträglich.
Platanen können bis zu 300 Jahre alt werden. Doch damit ist definitiv nicht das höchstmögliche Alter vorgegeben. Weltweit gibt es einige Exemplare, die diese Lebenserwartung deutlich übertreffen. So steht auf der griechischen Insel Kos eine Platane, deren Alter mit etwa 1000 Jahren angegeben wird. Ihr Umfang beträgt sagenhafte 14 Meter.
Mit einem Umfang von knapp sechs Metern und immerhin an die 150 bis 200 Jahre alt steht auch eine Platane im Garten des Oberneulander Ehepaars Rave. 1992 kauften sie das Grundstück von den Erben des Bauunternehmers Jüers, der an gleicher Stelle im Gustav-Brandes-Weg seinen Bauhof betrieb. An die Zeiten des Bauunternehmens und an die schöne Platane inmitten des Werkhofs kann sich auch Rainer Kahl noch gut erinnern. Er wuchs gegenüber des Bauhofs auf und konnte den schon damals imposanten Baum
tagtäglich bewundern. „Inmitten von technischen Gerätschaften, Baggern und Baumaterialien war die Platane auch schon vor knapp 70 Jahren ein mächtiger und sehr schön gewachsener Baum“, erinnert sich der ehemalige Ortsamtsleiter.
Gleich nach dem Kauf des Grundstücks und dem Bau eines Einfamilienhauses ließ Ortwin Rave 1994 ein Gutachten vom bekannten Bremer Sachverständigen Bruno Born zur Sicherheit des mächtigen Baumes erstellen. Grundsätzlich gilt, dass jeder Eigentümer für sein Eigentum verantwortlich ist – so auch beim Baumbestand. Diese Verantwortung übernimmt jeder Grundstückseigentümer mit dem Erwerb von Grund und Boden, einschließlich der vorhandenen Bäume. Hier spielt die Verkehrssicherungspflicht des Eigentümers eine zentrale Rolle.
Seitdem werden im Abstand von fünf Jahren ein Baumsachverständigen-Gutachten zur Sicherheit der Platane erstellt und die sich daraus ergebenden Baumpflegemaßnahmen durchgeführt. Alle zwei Jahre wird der Schnitt nachkontrolliert. Mit diesem Gutachten bekommt Ortwin Rave ein schriftliches Protokoll über eine durchgeführte Baumkontrolle an die Hand, in dem die nötigen Sicherungsmaßnahmen und der Pflegebedarf aufgelistet sind, sodass er im Fall des Falles – falls der nächste Sturm doch Schäden verursachen sollte – der Versicherung oder einem Gericht einen Nachweis vorlegen kann, dass der Verantwortung zur Baumsicherheit nachgekommen wurde.
Im November 2021 wurden hierzu von der Firma Hanseatic Treework umfangreiche Untersuchungen vorgenommen.
Zunächst wurde der Baum visuell in Augenschein genommen und mit einem Schonhammer abgeklopft, um eventuelle innere Defekte durch Hohlklang festzustellen. Weitere Untersuchungen wurden mit speziellen Diagnosegeräten durchgeführt. Hierzu zählt unter anderem die Ermittlung der intakten Restwandstärke mittels eines Bohrwiderstandsmessgerätes. So lassen sich überall und ohne großen Aufwand Strukturen, innere Defekte oder Restwandstärken von Bäumen und Hölzern feststellen.
Die Schalltomographie zeichnet ein Querschnittsbild des Baumes in der Untersuchungsebene. Da die Sensorstifte nur wenige Millimeter in das Holz getrieben werden, kann diese Untersuchungsmethode als verletzungsfrei bezeichnet werden. Der Baum kann hier gut reagieren und die minimale Verletzung durch die Nägel nach kurzer Zeit ohne bleibenden Schaden überwallen.
Der Zugversuch, im Fall der Platane mit einem Unimog, dient der Prognose der Stand- und Bruchsicherheit eines Baumes. Durch Hochrechnung der erfassten Daten und den Vergleich mit empirischen Messwerten (Dehnungsfähigkeit grüner Hölzer, natürliches Kippverhalten von Bäumen) lässt sich die Stand- und Bruchsicherheit eines Baums für den Fall großer Windlasten bis Orkanstärke abschätzen. Mittels Zugeinrichtung und Zugseil wird eine geringe, für den Baum unschädliche Wind-Ersatzlast simuliert. Daraufhin wird mit Sensoren gemessen, wie diese Windlast die Tragfähigkeit des Stammes und die Verankerungskraft des Baumes im Boden beeinflusst. Nach der Auswertung der erfassten Daten erhält man eine fachlich begründete Abschätzung des statischen Zustands des Baumes und einen Sicherheitswert, der die Stand- und Bruchsicherheit eines Baumes unter orkanartigen Windverhältnissen prognostiziert.
53 Seiten Gutachten erhielt die Familie Rave zum Jahresende 2021. Das Fazit: 30 Meter hoher Veteran mit leichten „Gebrauchsspuren“ und einer guten statischen Grundsicherheit. Anfang Februar 2022 wurden dann, ebenfalls von Hanseatic Treework, die Baumpflegemaßnahmen durchgeführt. Zwei Tage lang bekam die Krone der Platane einen neuen Schnitt, indem die überhängenden Äste entfernt bzw. gestutzt wurden. Mit dem Erhaltungs- und Auslichtungsschnitt wurden alte und vertrocknete Äste entfernt. Der Kronenpflegeschnitt beugt somit unerwünschten Entwicklungen in der Krone, überwiegend im Fein- und Schwachastbereich, vor. Entwicklungsunfähige Äste wurden entnommen und Aststummel nachgeschnitten. Ausbruchgefährdete Stämmlinge und Kronenteile wurden durch den Einbau eines Kronensicherungssystems verstärkt.
Was sich zunächst sehr technisch anhört und für die Familie Rave auch einen erheblichen Kostenaufwand beinhaltet, dient vor allem dem Erhalt eines wunderschönen Baumes und zugleich dem Lebensraum vieler Tiere. „Der Stamm der Platane ist in den vergangenen 28 Jahren mehrere Zentimeter gewachsen. Er bietet Platz für viele Tierarten und in seiner Rinde finden Insekten und andere Lebewesen Schutz und Nahrung. Unterschiedliche Käferarten legen ihre Eier am Stamm ab. Die Larven bohren sich ins Holz hinein und leben dort, bis sie als fertiger Käfer ausfliegen. Diese Löcher wiederum nehmen andere Insekten oder Pilze an. Nach und nach blättert weiteres Holz ab, wird durch Pilze zersetzt oder durch Spechte entfernt. Es entstehen Höhlen, die Vögeln einen Brutplatz bieten. Auch Eichhörnchen oder Fledermäuse ziehen ihre Jungen in unserer Platane auf oder nutzen die Höhlen als Winterquartier. Das alles im eigenen Garten erleben zu dürfen, ist für uns die größte Freude“, erklärt Ortwin Rave die Verbundenheit mit „seiner“ Platane.

Text und Foto: Meike Müller